: „Unsere Geschichte – Nasza historia“
Das deutsch-polnische Schulbuch „Europa“ ist nach 20 Jahren Zusammenarbeit auf beiden Seiten fertig. Aber ob es zum Einsatz kommt, ist unklar

Aus Warschau Gabriele Lesser
Die Idee schien genial zu sein: Polnische und deutsche Kinder lernen aus einem gemeinsamen Schulbuch, diskutieren offen und kritisch über Geschichte und Gegenwart und werden schließlich Freunde – bei einem gemeinsamen Skiausflug, einem Segeltörn oder Theaterworkshop. Dass es ganz so leicht und harmonisch nicht werden würde, war den Initiatoren des Schulbuchs „Europa. Unsere Geschichte“ und „Europa. Nasza historia“ von vornherein klar. Doch die Begeisterung überwog. 2008 begannen Dutzende Wissenschaftler, Lehrer und Lehrerinnen auf beiden Seiten der Grenze am Projekt zu arbeiten, trafen sich immer wieder, schrieben Texte, wählten Bilder, Landkarten und historische Quellen aus, bis nach langen zwölf Jahren alle vier Bände in Deutschland und acht Bände in Polen fertig waren.
Doch wer gedacht hatte: „Ende gut, alles gut“, sah sich getäuscht. Denn den Praxistest hat das Werk noch immer nicht bestanden. In Deutschland wird „Europa. Unsere Geschichte“ auch 2025 nur sporadisch, in Polen an keiner einzigen Schule eingesetzt. Die neue Mitte-links-Regierung unter Donald Tusk will gründlich reformieren. Rund 20 Prozent des bisherigen Lernstoffs sollen gestrichen werden, und überhaupt das ganze Lernkonzept überarbeitet werden: weg vom Auswendiglernen tausender Fakten, hin zum Einüben von Problemlösungskompetenzen am Beispiel von historisch wichtigen Ereignissen. „Wir brauchen noch einen langen Atem“, lacht Malgorzata Glinka vom Lehrerfortbildungszentrum in Warschau. „Aber ich bin optimistisch.“
„Mir gefällt das Buch gut“, lobt Marcin (14) den vierten Band von „Europa. Unsere Geschichte“. Der junge Pole geht in die achte Klasse des sogenannten „deutschen Zuges“ der Willy-Brandt-Schule im Warschauer Stadtteil Wilanów. Zurzeit beschäftigen sich die 22 Jugendlichen aus Polen, Deutschland und der Ukraine mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Beginn der Weimarer Republik. „Vor allem die Karten sind gut“, sagt Marcin. Julia (15) aus Deutschland deutet auf ein paar Bilder: „Die sind wichtig. Da kann ich mir gleich viel besser vorstellen, wie das damals war. Und durch die Zeitleisten kommt man bei den Jahreszahlen nicht durcheinander.“ Zum Lernen für eine Klassenarbeit würden die beiden und auch Sofiia (14) aus der Ukraine das Schulbuch „Zeitreise“ für die 7. und 8. Klasse vorziehen. „Die Texte sind kürzer und viel einfacher“, sagt Sofiia, räumt aber ein: „Ich lerne ja noch Deutsch. Ich muss viele Worte nachgucken.“
Doch als der Geschichtslehrer Wolfgang Zehetbauer fragt, was denn eine Demokratie von einer Diktatur unterscheidet, kann niemand in der Klasse die Unterschiede benennen. „Ich verwende ‚Europa. Unsere Geschichte‘ gerne im Unterricht, aber nur sporadisch. Denn auch als Auslandsschule sind wir an Curricula gebunden“, erklärt er. Eigentlich kommt er aus der österreichischen Hauptstadt Wien, lebt aber schon seit zehn Jahren in Warschau. Für die Sekundarstufe I, also die Klassen 5 bis 9, arbeite die deutsch-polnische Begegnungsschule eigene Lehrpläne aus, die sie jedes Jahr bei der Kultuskonferenz zur Genehmigung einreichen müsse. „Da sind wir etwas freier und können auch mehr polnische Themen einbauen“, so Zehetbauer.
In der Sekundarstufe II, also in den Klassen 10 bis 12, sei für alle deutschen Auslandsschulen weltweit das Curriculum von Baden-Württemberg verpflichtend. „Da die Abitur-Prüfungsfragen zentral formuliert werden, haben wir da weniger Gestaltungsfreiraum“, erklärt der 38-Jährige. Aber als Themeneinführung eigne sich ‚Europa. Unsere Geschichte ‚ auch hervorragend für die 12. Klasse. Was allerdings fehle, seien Definitionen wie ‚Demokratie, Diktatur, Partei‘, usw. „Da wäre es gut, bei einer Neuauflage ein Begriffslexikon am Ende des jeweiligen Bandes anzufügen“, so Zehetbauer.
„Ein Leuchtturm der deutsch-polnischen Beziehungen sollte das Schulbuch werden, ein Vorbild für viele andere Nachbarländer“, beschwört Violetta Julkowska, die polnische Co-Vorsitzende der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission, den Geist der ersten Stunde herauf. Die Kommission beschäftigt sich seit 1972 mit der Analyse von Geschichts- und Geografie-Schulbüchern in Deutschland und Polen, formuliert Empfehlungen und koordinierte seit 2008 die Entwicklung des vollkommen neuen Schulbuchs ‚Europa. Unsere Geschichte‘ und ‚Europa. Nasza historia‘.
„Natürlich war uns klar, dass es schwer werden würde. Denn wir mussten nicht nur die Lehrpläne von 16 deutschen Bundesländern berücksichtigen, sondern auch die vollkommen anderen Anforderungen an Kinder in polnischen Schulen“, so die Professorin für Geschichtsdidaktik an der Universität Posen. Wie ein Happy End erschien ihr daher die Auszeichnung von „Europa. Nasza Historia“ als bestes Geschichts-Schulbuch in Polen durch die Polnische Akademie der Wissenschaften (PAU) in Krakau am 15. Juni 2024. „Sobald die ersten Bestellungen eingehen, werfen wir die Druckmaschinen an“, freute sich im Innenhof der altehrwürdigen Akademie auch Waldemar Czerniszewski, der Direktor des Schulbuch-Verlags WSiP.
Zu der kleinen Gruppe, die an einem Stehtisch im Innenhof der Akademie mit einem Glas Sekt den Preis für das beste polnische Schulbuch im Jahr 2024 feiert, gesellt sich auch Marcin Wiatr vom Leibniz-Institut für Bildungsmedien /Georg-Eckert-Institut in Braunschweig. Er legt einen dicken Packen Schulbücher auf einem Nebentisch ab, nickt noch schnell einem vorübergehenden Bekannten zu und hebt das Glas: „Wir haben es geschafft! Erst 2021 der Preis in Deutschland für unser Schulbuch, jetzt hier in Polen. Besser kann es doch gar nicht sein!“ Auch dieses Institut kann sich wie die Polnische Akademie der Wissenschaften mit Sitz in Berlin zu den Vätern des Erfolgs zählen. Sie hatten die wissenschaftliche Aufsicht über das ganze Projekt. „Jetzt können wir das Schulbuch für das Internet fitmachen“, sagt Wiatr. „Die ersten Module sind schon fertig.“
Die Jugendlichen in der achten Klasse der Willy-Brandt-Schule können sich nach einer Stunde Geschichtsunterricht kaum noch konzentrieren. Nach der Doppelstunde sollen sie gleich in einem anderen Fach einen Test schreiben. Einige versuchen noch schnell etwas zu lernen. Ein Schüler schnippt Metallkügelchen durch die Gegend, ein anderer wippt so stark mit seinem Stuhl, dass er umfällt. Lehrer Zehetbauer greift zu einem bewährten Mittel, um seine zweite Stunde noch zu retten: er startet das Internet und bittet alle Kinder, ihre Schul-Tablets von der Ladestation zu holen.
Waldemar Czerniszewski, Direktor Schulbuch-Verlag WSiP
Innerhalb von Minuten hat jeder den Geschichtsquiz geladen. Die Fragen werden auch auf der großen weißen Tafel, die als Bildschirm dient, angezeigt. Die meisten machen begeistert mit. Wettkampfstimmung macht sich breit: Wer wird die meisten richtigen Antworten haben?
Parallel zum deutschen Zug an der Willy-Brandt-Schule in Warschau gibt es auch einen polnischen. Dort beginnen Kinder mit polnischer Muttersprache in der ersten Klasse, bekommen in den nächsten Klassen immer mehr Deutschunterricht, der sie dazu befähigt, ab der 10. Klasse auch am deutschsprachigen Unterricht teilzunehmen und am Ende der 12. Klasse das deutsche internationale Abitur abzulegen.
„Das ist natürlich ein großer Erfolg, dass das Bildungsministerium in Warschau nun auch der polnischen Version von „Europa. Unsere Geschichte“ eine Zulassungsnummer gegeben hat“, erklärt Rüdiger Bott, der Direktor der Willy-Brandt-Schule. „Dennoch werden wir es nicht gleich einführen. Der Kauf eines neuen Schulbuchs für gleich vier Klassenstufen muss gut überlegt sein. Auf dem Prüfstand stehen nicht nur die Finanzen, sondern vor allem das Curriculum.“

Die Neufassung der Lehrpläne für alle Fächer und Klassenstufen soll Ende 2025 abgeschlossen sein. „Was passieren kann“, erklärt Bott, „ist, dass das neue Curriculum mit dem gerade erst zugelassenen Schulbuch nicht mehr kompatibel ist und es daher schon im nächsten oder übernächsten Jahr als veraltet ausgemustert werden müsste.“
Nach der jahrelangen Blockade des deutsch-polnischen Schulbuchs durch die rechtspopulistische Partei „Recht und Gerechtigkeit“, die von 2015 bis Ende 2023 die Regierung in Polen stellte, könnte nun ausgerechnet die Mitte-links-Regierung unter Donald Tusk das gemeinsame Schulbuchprojekt doch noch zu Fall bringen.
„Nein, nein“, widerspricht dem aber entschieden der Geschichtsprofessor Hans-Jürgen Bömelburg von der Universität Gießen: „Wir bleiben amEuropa-Ball“. Er teilt sich den Vorsitz der deutsch-polnischen Schulbuchkommission mit der Geschichtsdidaktik-Professorin Violetta Julkowska von der Universität Posen. „Wir sehen die Zukunft des deutsch-polnischen Schulbuchs vor allem im Internet. Das entwickeln wir kontinuierlich weiter.“ Das Schulbuch werde wohl nie auf Massenbasis im Unterricht eingesetzt werden, aber diejenigen, denen die deutsch-polnischen Beziehungen wirklich am Herzen liegen, könnten auf die Internet-Module des Schulbuchs zugreifen. „Dafür wird die Kommission sorgen“, so Bömelburg: „In Deutschland wie in Polen!“
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