: Unser Mikis
Am 29. Juli 2025 würde der griechische Sänger Mikis Theodorakis 100 Jahre alt. Die linke Ikone war auch für die Gastarbeiter in Deutschland von großer Bedeutung. Eine persönliche Erinnerung
Von Manuel Gogos
Ich liege mit meinem Onkel auf dem Boden unseres Wohnzimmers – in Gummersbach, im Jahr 1974 muss das gewesen sein – und wir hören Musik von Mikis Theodorakis. 1970, im Jahr meiner Geburt, kommt mein Onkel Antonios nach Deutschland, und er wohnt bei uns zu Hause – der kleine Bruder meines Vaters Leonidas ist wie ein großer Bruder für mich. Er trägt lange Haare, und das ist politisch, denn im Griechenland der Obristen sind lange Haare für Männer nicht erlaubt.
Der Plattenspieler spielt dieses Lied „To Sfagio“, „Der Schlachthof“, mit diesen berühmten Zeilen „Sie schlagen dich, sie schlagen mich“ – nicht gerade kindgerecht. Den Inhalt des Lieds und die ganzen Hintergründe habe ich erst später verstanden, als ich mich mit der Geschichte meines Gastarbeitervaters beschäftigt habe, auch mit der politischen Geschichte, die sich mit der Geschichte der Gastarbeiter verbindet.
Mit dem Staatsstreich vom 21. April 1967 übernimmt in Griechenland eine faschistische Verschwörerclique um den Oberst Georgios Papadopoulos die Macht. Die Landesgrenzen werden geschlossen, alle Nachrichtenverbindungen unterbrochen, die Zeitungen gleichgeschaltet. Im Schutz der Nacht finden Verhaftungswellen statt, innerhalb kürzester Zeit verhaftet die Junta tausende Exponenten der Demokratie, kaserniert sie in Fußballstadien, verschleppt sie in Foltergefängnisse oder auf KZ-Inseln.
Theodorakis gilt den Putschisten als „Staatsfeind Nummer 1“. Anfangs kann er untertauchen und aus der Illegalität heraus gegen die Junta kämpfen. Aber am Ende wird er doch aufgespürt und ins gefürchtete Foltergefängnis in Athen verbracht. Theodorakis ist sicher, getötet zu werden. Tatsächlich richtet man ihn zweimal zum Schein hin. Diese „weiße Folter“ ist grausam. Theodorakis wird auf die Dachterrasse des gefürchteten Foltergefängnisses in der Bouboulinas-Straße von Athen verbracht und dort in einen Verschlag aus Blech gesperrt. Die Luft darin erhitzt sich in der prallen Sonne auf annähernd 50 Grad. Und gleich daneben wird einer seiner engsten Freunde und Weggefährten, nämlich Andreas Lendakis, gefoltert. Theodorakis hört jeden Schlag und jeden Schrei und steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Da geben ihm seine Wächter Notenpapier – und tatsächlich beginnt er zu komponieren. „Um nicht verrückt zu werden“, schreibt er später in seinen Erinnerungen: „Diesen meinen umgebrachten Freunden habe ich fast mein ganzes Werk gewidmet. Tausende Freunde, Verlorene, Hin- und Hergeworfene, Gefolterte, Geschlagene. Jeder von ihnen hält ein Ende des Stacheldrahts in der Hand.“
Seiner Prominenz wegen verbannt man Theodorakis ins Bergdorf Zatouna. Er wird streng bewacht, hat aber ein Klavier und lässt sich wieder nicht davon abbringen, zu komponieren. Um seine Lieder herauszuschmuggeln, wird er erfinderisch. Georgios, sein neunjähriger Sohn, wird krank und darf nach Athen zu einem Arzt. Da näht seine Mutter die kleinen Magnetofonbänder in die Knöpfe von Giorgos’Mantel ein. Die Bänder kommen zur Deutschen Welle in Köln, und die sendet die Lieder um die ganze Welt.
Eine internationale Solidaritätsbewegung formiert sich zur Freilassung des griechischen Komponisten, darunter der sowjetische Komponist Dmitri Schostakowitsch und US-amerikanische Autoren und Sänger wie Arthur Miller und Harry Belafonte. 1970 kann Theodorakis endlich ins Exil gehen, nach Paris. Bis zum Ende der Diktatur 1974 wird er über tausend Konzerte in der ganzen Welt dirigieren, viele davon auch in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland.
Mein Onkel hat ihn damals gesehen. Ich war noch zu klein, um ihn zu begleiten, aber Toni erinnert sich, wie das in Düsseldorf war. Lauter Griechen trafen sich dort in dem Theodorakis-Konzert, vor allem die linken, aber nicht nur. Und auch viele Deutsche, Philhellenen, die gern in griechischen Restaurants zu Abend aßen oder Nana Mouskouri hörten (die übrigens unter anderem mit Liedern von Theodorakis berühmt geworden ist). Daneben Griechenlandtouristen, Hippies, die „Alexis Sorbas“ und den berühmten Sirtaki im Kino gesehen hatten und vom freien, authentischen Leben in den Höhlen des kretischen Matala träumten. Für mich als Kind eines Griechen und einer Deutschen ist diese Geschichte meines Onkels ein ganz besonderer Moment der „geteilten Erinnerung“.
Toni erinnert sich, Theodorakis’Konzert hat bis in die Nacht gedauert. Aber aus Begeisterung über sein Publikum – und zur Begeisterung seines Publikums – sucht „unser Mikis“ danach noch ein griechisches Lokal auf, um mit der Gitarre in der Hand und unter dem Mitsingen seines Publikums bis morgens um fünf Uhr weiter Musik zu machen.
Theodorakis wird in den 1970ern zu einer weltweiten Ikone der linken Bewegung, vor allem mit seiner berühmten Vertonung von Pablo Nerudas „Canto General“. Einem breiteren Publikum wird er mit seiner Filmmusik bekannt. Er komponiert 40 Filmmusiken, darunter für „Alexis Sorbas“ und den Politthriller „Z“. Theodorakis gehört mit dem Italiener Ennio Morricone zu den produktivsten Filmkomponisten jener Ära, der deutsche Filmkomponist Hans Zimmer nennt ihn einen seiner Lehrmeister.
In Deutschland ist Theodorakis in den 1970er Jahren ein Megastar. Die griechisch-deutsche Sängerin Vicky Leandros fährt mit seinen Liedern über Jahrzehnte Riesenerfolge ein. Aber auch Herman van Veen oder Hannes Wader interpretieren seine Lieder.
1963 covern sogar die Beatles einen seiner Songs, den „Honeymoon Song“ kann man sich heute auf Youtube anhören. Mit „Luna de Miel“ wurde Theodorakis schon 1960/61 in Lateinamerika zum Megastar. Als er Anfang der 1960er Jahre nach Kuba fliegt, lädt ihn der Guerillaführer Che Guevara auf einen mehrtägigen Trip in die Berge ein.
Nach dem Ende der Diktatur 1974 kehrt Theodorakis nach Griechenland zurück. Im Athener Stadion entfesselt er einen Begeisterungstaumel. Ich kenne das nur von Videos aus dem Internet. Aber es war ungefähr zu der Zeit, als ich mit meinem Onkel in Gummersbach auf dem Teppichboden lag und Theodorakis’ Platten hörte.
Und er bleibt politisch aktiv: Mit dem türkischen Sänger Zülfü Livaneli arbeitet Theodorakis an einer Aussöhnung zwischen Griechen und Türken – wofür er im Jahr 2000 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wird. Gleichzeitig verurteilt er aber auch die Nato-Angriffe auf Serbien, spricht mit dem später wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagten Präsidenten Slobodan Milošević und veranstaltet in dessen Hauptstadt Belgrad ein Solidaritätskonzert.
Theodorakis hinterlässt 1.000 Lieder und Liedzyklen, auch musikalische Großformen wie Sinfonien und Opern über antike Stoffe. Die Verehrung, die ihm in seinen letzten Jahren international zuteil wurde, hat er genossen. Der Künstler Joseph Beuys nannte ihn einmal voller Bewunderung eine „soziale Skulptur“. Im Juli 1995 tanzt der große Mann – auch körperlich eine herausragende Gestalt – bei einer konzertanten Aufführung der „Zorbas“-Ballettsuite auf dem Münchner Königsplatz mit Anthony Quinn seinen letzten öffentlichen Sirtaki. 2021 tritt Theodorakis ab, von der Weltmusik wie der Weltrevolution. 2025 wäre „unser Mikis“ 100 Jahre alt geworden. Ich krame die alten Platten raus, lege mich auf den Boden meines Wohnzimmers und höre sie wieder. Und träume von jenem megautopischen Moment Mitte der 1970er Jahre, als es nach dem Abtreten der Obristen in Griechenland, von Franco in Spanien und Salazar in Portugal so aussah, als wären die faschistischen Diktaturen in Europa ein für alle Mal besiegt.
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