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Unschuld und Sühne

Es ist immer ein so zählebiges Knistern und Kratzen in der Stadt: Christian Försch hat sich mit seinem Debüt „Unter der Stadt“ ganz ohne große Verschleierungstaktiken an einem Berlinroman versucht

von GERRIT BARTELS

Im Literaturbetrieb geht es inzwischen zu wie bei Modeschauen oder MTV und Viva. Vom schnellen, einfachen Erzählen bis zum Fräuleinwunder, von jungen Briten bis zu deutschen Popliteraten, von Biller bis Lebert und wieder zurück: Jede Saison ein neuer Hype, und was im Herbst noch der heißeste Scheiß war, gilt im Frühjahr schon als Ladenhüter. So weit, so bekannt.

Umso auffälliger ist es da, dass sich ein Trend als besonders zählebig erweist: Der Großstadtroman respektive Berlinroman, seit der Wende unermüdlich eingefordert und ein Lieblingsprojekt junger wie alter deutscher Schriftsteller. Mal wird er einfach so als Label auf ein Buch mit raufgepackt, mal ergibt er sich von selbst aus der jeweiligen Berliner Lebenssituation, dann wieder wird er mit Ansage gestemmt. Berlinromane, Anti-Berlinromane, Parodien auf Berlinromane, irgendwas ist immer. Selbst wenn zuletzt Bücher wie Perikles Monioudis’ „Palladium“, Ralf Bönts’ „Gold“ oder Inka Pareis „Schattenboxerin“, um einfach mal drei zu nennen, mehr oder weniger durchgefallen sind, scheinen die Anmutungen des Heldens aus Matthias Zschokkes ironischen 95er-Berlinroman „Der dicke Dichter“ auch noch heute brandaktuell: „Die Federn sind nur so gespitzt, es ist ein einziges Knistern und Kratzen, wenn man durch die Straßen geht.“

Auch der 33-jährige Christian Försch hat es wohl gespürt, dieses Knistern und Kratzen, auch er scheint der Meinung zu sein, „dass Berlin neu geschrieben werden will, muss, wird“ (nochmal Zschokke). Mit seinem Debüt „Unter der Stadt“ hat er sich ganz ohne Umstände, Verschleierungstaktiken oder Angst vor dem Scheitern an einem Berlinroman versucht. Wahrscheinlich störte es ihn deshalb nicht, dass sein Verlag im Klappentext nicht geizt mit Formulierungen wie „aufstrebende Metropole Berlin“ und dann auf dem Buchrücken wirklich alles gibt: „So wie der berühmte Franz Biberkopf verloren über den pandämonischen Alexanderplatz der Zwanzigerjahre lief, irrt Paul Holbig über den seelenlosen Potsdamer Platz von heute.“ Sehnt man sich bei solchen Anwerbeversuchen auf der Stelle nach einem Harzer Heimatbuch oder einem Zeitroman aus Norderney, so entschädigt die Lektüre des Romans dann doch in weiten Teilen.

Anzunehmen, dass Försch Döblins „Berlin Alexanderplatz“ im Sinn gehabt hat, wenn er sein Buch beginnt mit der Entlassung seines Helden Paul Holbig aus dem Gefängnis, wo dieser vier Jahre für den Totschlag an seinem Freund Hans gesessen hat.

Ein hübsches Zitat, das einen Verlag jubelnd im Sechseck springen lässt, ein geschickter Kunstgriff aber auch, der Försch es ermöglicht, seinen 30-jährigen Helden einen sozusagen unschuldigen Blick auf Berlin werfen zu lassen. Paul am Zoo, auf dem Alex, in Prenzlauer Berg, Neukölln oder Zehlendorf, elegant schildert Försch, wie Paul durch die Stadt gleitet, und auch an tiefer gelegenen Eindrücken fehlt es nicht: „Wochenlang hatte er sich einen Plan zurechtgelegt, um nicht wieder überrannt zu werden von der Zielstrebigkeit der anderen Leute, vom Gewicht der geregelten Abläufe, der S-Bahnen, U-Bahnen, der doppelstöckigen Autobusse.“ Interessanter aber als die vielen Impressionen von den zumeist einschlägig bekannten Orten der Stadt ist das Geschick, mit dem Försch seine Geschichte aufzäumt: Lange bleibt man im Ungewissen, was in jener Nacht passiert ist auf der Baustelle am Lehrter Bahnhof, auf der Hans angeblich von Paul totgeschlagen wurde; und mysteriös sind auch das volle Girokonto und die Aktien im Wert von fast einer Million Mark, die Paul nach seiner Entlassung vorfindet.

Försch erzählt das alles klar und ohne Schnörkel, mal schnell und nach vorn, dann wieder mit introspektiven Einschüben. Er lässt Paul über die Zeit vor seiner Haft sinnieren, über Elternhaus, Studienzeit, das Verhältnis zu seinen Freunden Hans und Karl, und er schickt ihn schließlich verbissen in die Spur des alten Lebens, damit Licht in das Dunkel des Totschlags und des „Schmerzensgelds“ komme. Bei den Schwierigkeiten, die das mit sich bringt, dem Desinteresse, das alle Beteiligten an dem Fall haben, merkt Paul zusehends, dass er nach erfolgter Auflösung nicht viel weiter sein wird als vorher: Unschuld und Sühne, Wahn und Vergeblichkeit.

Natürlich knarrt es vor lauter Symbolik ganz arg in der Konstruktion dieser Geschichte: von wegen neues, aber kaltes Berlin, auf dessen Grund fürchterliche Geheimnisse lagern. Von wegen mächtige Stadt und ohnmächtige Menschen. Bisweilen fragt man sich, ob Pauls Schicksal wirklich so fest mit Berlin verwoben ist und ihm dasselbe nicht auch in Braunschweig hätte widerfahren können?

In Berlin aber, das lehrt Förschs Buch, darf man scheitern, und auch an einem Berlinroman, wenn denn sonst noch was bleibt: Gut ist „Unter der Stadt“ in der psychologischen Ausstattung seiner Figuren. Wenn in den Dialogen viel Ungesagtes mitschwingt, die Entwicklung Pauls und seiner Freunde dargestellt wird, und die Geschichte zum Ende hin immer atemloser wird. Sollte es im Übrigen gar nicht anders gehen mit dem literarischen Rocken in crazy Berlin, bleibt die Hoffnung, dass mal jemand via Reineckendorf oder Köpenick die Welt erklärt. „Welthaltigkeit“ oder den „Rhythmus der Gegenwart“ findet man ja oft dort, wo man sowas gar nicht vermutet.

Christian Försch: „Unter der Stadt“. Aufbau Verlag, Berlin 2001, 303 Seiten, 34,90 DM

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