: Unordnung der Dinge
Ein poststrukturalistischer Held auf der Suche nach Leben: Antonia S. Byatts Roman „Das Geheimnis des Biographen“. Hysteriker kriegen auf die Mütze
von ELKE BRÜNS
Was haben Linnés biologisches System, Galtons eugenische Messungen und Ibsens Drama „Peer Gynt“ miteinander zu tun? Vor dieser Frage steht Phineas Gilbert Nanson, seines Zeichens Doktorand der Literaturwissenschaft und Held des neuen Romans von Antonia S. Byatt.
Phineas erlebt eine profane Erleuchtung: Während eines poststruktralistischen Seminars erkennt er, dass die schmutzige Fensterscheibe vor ihm nicht nur eine Metapher für Unzufriedenheit und Blindheit, sondern auch ein konkreter Gegenstand ist. Schluss mit der Doktorarbeit, hin zu den Fakten! Mit Phineas’ Entscheidung beginnt das für Byatt typische Verwirrspiel um Literatur, Zitat und Leben: Hatte nicht auch Virgina Woolfs Poet Orlando beim Verseschmieden aus dem Fenster geblickt, einen Lorbeerstrauch gesehen und sich daraufhin wild entschlossen ins Leben gestürzt?
Doch anders als der poetische Orlando entrinnt der eher prosaische Phineas der Welt der Wörter nicht so ohne weiteres. Sein Doktorvater rät zur Beschäftigung mit dem unterschätzten Genre der Biografie und gibt ihm gleich die von Destry-Scholes über den viktorianischen Gelehrten Sir Elmer Bole verfasste Lebensbeschreibung mit auf den weiteren Lebensweg. Prompt begeistert sich Phineas so sehr für Stil und Wissen Destry-Scholes’, dass er beschließt, nun seinerseits dessen Biograf zu werden. Die Spurensuche nach dem unbekannt Gebliebenen führt ins Verlagsarchiv, wo er auf ungeordnete Notizen zu Carl von Linné, dem ersten Taxonomen, zu Francis Galton, dem Eugeniker und Statistiker, und dem Dramatiker Henrik Ibsen stößt.
Die Fragmente bilden erzählerisch eine Art Puppe in der Puppe, denn natürlich will Phineas das Rätsel um die verborgene Verbindung zwischen den drei biografischen Skizzen lösen. Aber gibt es sie überhaupt? Zweifel stellen sich ein: Wie genau nahm es Destry-Scholes mit den Fakten, wo beginnt die Fiktion? Was bedeutet das alles für Phineas selbst, der seine Forschungen über den Biografen aufschreibend, immer mehr zum Autobiografen wird?
Tröstlich, dass sich wenigstens das Leben nun in aller Pracht und Fülle zeigt. Phineas hat die akademische Tristesse gegen einen Job in einem gaaanz verrückten Reisebüro eingetauscht, das Routen nach bestimmten Systemen anbietet. Und während seiner Recherchen trifft er auf Fulla Biefeld, eine robuste schwedische Ökologin, Bienentaxonomin und Bestäubungsspezialistin. Sie klärt ihn umfassend über die Klassifikationssysteme der Bienen, der Käfer und allgemein über bedrohte Arten auf. Der ökologische Nachhilfeunterricht wird zum erotischen – natürlich im Gras. Auch mit Vera, der Nichte Destry- Scholes’, die die von ihrem Onkel hinterlassene Murmelsammlung in ein System zu bringen sucht, teilt Phineas bald das Bett. Alle suchen also die Ordnung der Dinge, nur die Autorin hat sie hier schon gefunden, fügen sich die Frauenfiguren doch ganz zwanglos in das binäre Schema der bleichen, ätherischen, nokturnen Mondfrau und der kraftvollen, blonden, lebensrettenden Naturgöttin ein.
Aufgebaut ist das Buch wie eine Autobiografie. In der Aufzählung der Dinge und Wesen, die zu den verschiedenen Klassifikationssystemen gehören, gleicht es allerdings einer barocken Wunderkammer, durch die ein manischer Ordnungsfanatiker führt. Angesichts der ständigen literaturwissenschaftlichen Selbstkommentare Phineas’, anhand derer die Autorin Biografie wie Autobiografie – postmodern gesprochen – dekonstruiert, stellt sich das seltsame Gefühl ein, als lese man einen von Umberto Ecos ausufernden fantastischen Gelehrtenromanen und Thomas Meineckes „Tomboy“ zugleich.
Hier liegt auch die Crux des Romans. Was in Byatts erfolgreichem Debütroman „Besessen“ funktionierte – das detektivische Entziffern einer verborgenen Liebesgeschichte anhand chiffrierter Tagebücher, Briefe und Texte –, wirkt hier doch etwas ermüdend. Zumal einen die vielen Karteikarten zu Ibsen, Galton und Linné, die Biografien Elmer Boles und Destry-Scholes’, Bienentaxonomie, Reiserouten und Murmeln interessieren können oder eben auch nicht.
Es scheint, als wolle „The Biographers Tale“ – wie der Originaltitel zutreffender lautet – die Lust am Text permanent wecken und zerstören. Und so stellt sich trotz der Seitenhiebe auf Unibetrieb und Theorieblüten irgendwann Unlust ein. Auch das lässt sich vielleicht postmodern, nämlich mit Roland Barthes’ Klassifikation der Leselust erklären: Er meinte, der Fetischist liebe fragmentierte Texte und Zitate, der Zwangsneurotiker die Metasprachen der Theorie und der Paranoiker verzwickte Konstruktionen. Nur der Hysteriker nähme alles für bare Münze und würfe sich vorbehaltlos in den Text hinein. Byatt lockt den Hysteriker an – und gibt ihm dann dauernd eins auf die Mütze. Fetischisten, Zwangsneurotikern und Paranoikern will sie es aber recht machen – leider gleichzeitig. Foucault, bitte melden! Bringen Sie doch mal Ordnung in die erzählerischen Dinge!
Antonia S. Byatt: „Das Geheimnis des Biographen“. Aus dem Englischen von Melanie Walz. Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2001. 277 Seiten, 39,80 DM
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