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Universal Stalinwäscher

Menschen-, irre- und sicherheitsbeauftragteverachtende klassische Nischenidylle: Eine szenische Lesung zur Geschichte des Kommunismus im Maxim Gorki Theater

Nach der Lesung haben wir die Irrenwette aus dem Hochkellerloch nachgespielt

Seit 1952 bringt das Gorki Theater Unter den Linden uns „programmatisch russische und sowjetische Dramatik“ nahe, wobei es selbst immer wieder in den „Stürmen stand“. Zum 50-jährigen Jubiläum bietet das Gorki jetzt auf seiner Studiobühne noch einmal eine Rückbesinnung auf den Meister an, die sich „Lektionen“ nennt.

Das begann vor zwei Wochen mit einem Gespräch zwischen einem Theaterkritiker und dem neorealistischen sibirischen Regisseur Sigarew; das setzte sich fort mit der Einladung von sowjetischen Autoren, die den DDR-Spielplan des Gorki Theaters einst prägten und die hier der Frage nach dem „Sinn des zeitkritischen Dramas“ nachhingen. Gorki selbst kam in einer „Vorlesung fürs Volk“ zu Wort, wobei man sich auf Passagen aus „Meine Universitäten“ über seine frühen Wander- und Wunderjahre beschränkte. Ausgehend davon interviewte dann der Dorfschriftsteller Stefan Schwarz die Sexualbefreiungsperformer Goetze und Praunheim aus Westberlin unter dem Titel „Lebensuniversitäten“.

Bei der nächsten Veranstaltung – „Die Geschichte des Kommunismus“ – dachte ich sofort: Diese „szenische Lesung“ handelt bestimmt vom segensreichen Wirken der sowjetischen Kulturoffiziere in den Anfangsjahren der DDR. Weit gefehlt: Schon der Einstimmungstext beschrieb „die stalinistischen Strukturen“. Und selbst die aus „Einer flog über das Kuckucksnest“ entlehnte Stationsschwester hatte nur „Stalin“ im Kopf. Während der zwecks Hebung des politischen Niveaus in die Anstalt entsandte Schriftsteller ein Stalinpreisträger ist, der an Gorki gemessen wird.

Ansonsten ist das Stück des 46-jährigen in Paris lebenden Rumänen Matél Visniec eher menschen-, irre- und sicherheitsbeauftragteverachtend, insofern es ihm nicht um eine Mikrogenealogie der Macht, sondern um ein antistalinistisches Gleichnis geht, wobei diese komische Moskauer „Irrenanstalt“ aus den Frühjahren der Nachkriegszeit ihm unter der Hand zu einer Nischenidylle geriet, was sie dann doch wieder mit der späten DDR vergleichbar macht.

Besonders gefiel mir das Spiel des im Tiefparterre (Dostojewski) untergebrachten Patientenkollektivs: Sie verhängten ihr vergittertes Kellerfenster und schlossen dann auf jeweils zwei Kopeken begrenzte Wetten darüber ab, wer oder was als Nächstes oben auf der Straße vorbeikommt. Am Ende ist es Stalin, auf den jedoch nicht gewettet werden durfte. Dieses logische, aber umso unnötigere Ende muss uns nicht weiter interessieren. Zumal die Insassen der „freien Zone“ ein Stockwerk tiefer („Mutti, über uns ist eine Kellerwohnung frei geworden!“, W. Neuss) inzwischen schon mit Hilfe des Schriftstellers die Kontinuität des Kommunismus planen.

Nach der Lesung haben wir zu Hause die Irrenwette aus dem Hochkellerloch spaßeshalber nachgespielt, wobei wir vom zweiten Stockwerk aus wetteten und deswegen mit verhängten Spiegeln operierten. Das Ergebnis war enttäuschend: Zwischen 23 und 3 Uhr passierte kein Schwein unser Sichtfeld, weil wir uns – in der Schivelbeiner Straße – mitten im Sturm befanden: „im Wind der Zeit“, wie das Gorki Theater sich ausdrückte.

Erst gegen 4 Uhr, als die Wetten schon längst ins Groteske lappten, zeigte sich die Nachbarin mit ihren zwei Riesenkötern unserem trüben Blick. Da wir sie nicht mögen – eben wegen ihrer zwei Hunde, die Duran und Duran heißen, frei nach der Popband aus dem 82er-Sommer –, hatte jedoch niemand auf sie gesetzt, obwohl sogar bekannt war, dass sie jeden Morgen ihre zwei Lieblinge, die gerne Passanten anfallen, ausführt. Sie muss sich dann auch nicht schämen, wenn ihre Hunde auf den Bürgersteig kacken, weil um diese Stunde nur noch angetrunkene Männer unterwegs sind, die selber überall hinpissen. Was das Thema Stalinismus angeht, so ist es zu bedauern, dass das Gorki Theater nicht statt der szenischen Lesung den letzten Film von Alexej German, „Chrustalow, Maschino“, gezeigt hat. Dieser Regisseur beschäftigt sich nämlich mit nichts anderem. HELMUT HÖGE

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