Unhip und politisch

Dieter Hildebrandt lästert heute im 125. „Scheibenwischer“ wieder über Staat und Gesellschaft (21.45 Uhr, ARD). Und noch immer ist nicht klar, wie und ob sich Kabarett und Comedy unterscheiden

von ALEXANDER KÜHN

Heute Abend wird Gisela May vor dem Fernsehen sitzen. Schließlich läuft heute zum 125. Mal „Scheibenwischer“ in der ARD, und auf den steht die Diseuse des Ostens total: „Was der Hildebrandt macht, ist erstklassig. Ich versäume keine Sendung.“

76 Jahre ist die May, Dieter Hildebrandt immerhin 73. Dass sein Mitstreiter Bruno Jonas die Sendung bald übernehmen soll, sei aber nur ein Gerücht, heißt es beim SFB, der sich rühmt, mit Hildebrandt und Hallervorden die letzte Bastion des politischen Kabaretts im Ersten zu sein. Scheibenwischer-Redakteur Uwe Römhild: „Die Sendung wird es nur mit Hildebrandt geben.“ Und der möchte weitermachen, solange er die Bühne hochkommt.

Mitsamt seiner Sendung ist Hildebrandt ein Fossil. Denn klassisches Kabarett ist mittlerweile die Domäne der dritten Programme. So darf B 1 sein „Satirefest“ feiern, der WDR häkelt „Mitternachtsspitzen“ oder setzt auf Missfits und Verwandte.

Beim ZDF sieht es nicht anders aus: Wann hier zuletzt jemand Kabarett produziert hat, daran kann sich in Mainz niemand mehr erinnern. Die meisten tippen auf irgendwann in den 70ern. Umso rühriger kümmert sich 3sat um das Genre: Richard Rogler darf regelmäßig lästern, und jährlich lädt der Sender zum Zeltfestival auf den Lerchenberg.

Im Januar 1901 hatte Baron Ernst von Wolzogen in Berlin die erste Kabarettbühne eröffnet – die offizielle Geburtsstunde des Kabaretts in Deutschland. Sollte man, anstatt den 100. zu feiern, nun also lieber das Totenglöcklein läuten? Uwe Römhild zumindest glaubt, dass das Kabarett weiterleben wird – nur: „Früher war Kabarett die einzige politische Unterhaltungsform. Inzwischen gibt es satirische Elemente auch in anderen Sendungen.“ Hauser und Kienzle haben sich gegenseitig hochgenommen, „Frontal 21“ montiert Politiker-Statements zusammen.

Und dann erscheinen die schrillen, modernen Comedy-Shows der Privaten viel hipper und attraktiver als die Programmware der Öffentlich-Rechtlichen. Sicher, was Karl Dall, Didi Hallervorden oder Ilja Richter in den 70ern bei ARD und ZDF getrieben haben, war auch Comedy – nur hieß es damals Klamotte. Heute aber gibt es davon mehr als je zuvor. Wer, bitte, braucht da noch Kabarett?

Die Macher selbst sehen die Entwicklung gelassen. Arnulf Baring meint, Kabarett im Fernsehen habe ihn eh noch nie vom Hocker gerissen – so etwas müsse man live sehen. Und Matthias Beltz doziert: „Comedy ist nach der Rechtschreibreform lediglich die neue Schreibweise von Kabarett.“ Ja, wie? Alles dasselbe?

Noch sind Unterschiede erkennbar, etwa beim Vergleich „Scheibenwischer“ und Sat.1-„Wochenshow“: Hildebrandt ist stets live, im Mittelpunkt stehen die Künstler. Bei ihm ist ein persönlicher Standpunkt zu erkennen, den die Nachrichtensprecher à la Ingolf Lück und Kollegen oft nicht brauchen.

Trotzdem verschwimmen die Grenzen zunehmend: Ein Werbespot in der „Wochenshow“ vom Samstag warb für die CD „Das waren die 40er“. Zu bestellen unter der Nummer 0 19 39/19 45. Über Bilder von Kriegsflugzeuge trällerte Reinhard Mey „Über den Wolken“; und zu Bildern aus El Alamein schmetterte Freddy: „Brennend heißer Wüstensand“.

Da hätte auch Hildebrandt was draus machen können. Genauso gern hätte Lück sicher den Gag verwertet, mit dem Hildebrandt im vergangenen Jahr fast vor Gericht gelandet wäre: Er hatte in seiner Sendung laut über die Abschiebung einer kurdischen Familie nachgedacht – und gefragt, ob die Leute von der Ausländerbehörde in Wiesbaden vielleicht nachträglich in die SS eintreten wollten. Die Stadt Wiesbaden fand’s gar nicht komisch.

Ist Comedy also doch nur eine moderne Version von Kabarett? Elke Frühling, zuständige Redakteurin bei 3sat, würde sich von der „Wochenshow“ gerne was abgucken: „Es wäre toll, wenn wir auch solche Eigenproduktionen schaffen könnten. Dazu fehlt uns aber leider das Geld.“ Ihre Prophezeiung: „Die Comedy-Inflation wird bald vorüber sein. Dafür wird jedoch das klassische Kabarett vieles daraus übernehmen – „einfach um fernsehtauglicher zu sein“.

So wie die „Harald Schmidt Show“, die mit einem kabarettistischen Spitzenmonolog beginnt, um dann im Small Talk zu versumpfen; oder Hallervordens „Spottlight“, für das der SFB bereits die Fortsetzung plant. Was also macht es schon, wenn man die Genres nicht mehr unterscheiden kann: 1901 sah Kabarett auch anders aus als heute.

Die allgemeine Konfusion spiegelt auch das „Comedy-Lexikon“ wieder, das 1999 herauskam: Es mischt einfach alles kunterbunt durcheinander. Und raten Sie mal, wen wir auf Seite 206 finden, neben dem Medium-Terzett und Walter Mehring? Richtig: Gisela May.