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Ungesühnte NS-VerbrechenDie Zeit läuft davon

Sie warten immer noch auf ihre Rente: Überlebende, die als Kind von den Nazis in Ghettos gesperrt wurden und dort gearbeitet haben.

Überlebender des Lodzer Ghettos: Władysław Wejs am Freitag in Berlin Foto: Andreas Domma, Berliner Photoart

Berlin taz | Das Herz von Władysław Wejs wurde vor eineinhalb Wochen operiert. Eigentlich soll er es schonen, aber an diesem Tag muss der 78-Jährige protestieren. Deshalb ist Wejs um kurz nach fünf Uhr morgens in Polen in den Zug nach Berlin gestiegen.

Am Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust protestieren Wejs und etwa zehn andere Betroffene, weil viele Überlebende der Nazi-Ghettos keine Rente erhalten. Sie treffen sich am Berliner Holocaustmahnmal. Wejs streckt eine Hand aus, um das Transparent zu berühren, das andere Demonstranten hochhalten. „Ghetto-Renten Gerechtigkeit jetzt!“ steht darauf.

Die Nazis sperrten Władysław Wejs als Kleinkind ins Łódźer Ghetto. In dem Stadtteil waren tausende polnische Juden, Sinti und Roma eingepfercht. Władysław Wejs schrubbte Küchen, um zu überleben. „Im Ghetto musste man sich jedes Stück Brot, jeden Teller Suppe erarbeiten“, erzählt er der taz. Er war fünf Jahre alt, als er ­anfing zu arbeiten. Zu jung, sagt die Bundesregierung heute: Für seine Arbeit im Ghetto bekommt Wejs keine Rente, weil er damals noch ein Kind war.

100 oder 200 Betroffene leben noch

Markus Tervooren ballt die rechte Faust, in der linken hält er ein Megafon. „Das ist keine Entschädigung, das ist keine Belohnung, sondern das ist eine Rente, die man sich erarbeitet hat“, ruft Tervooren. Er ist Geschäftsführer eines antifaschistischen Vereins. „Die 100 oder 200 Betroffenen, die jetzt noch leben, sind alle von der Ghetto-Rente ausgeschlossen“, sagt er.

Erst 2002 hat der Bundestag das Ghetto-Renten-Gesetz erlassen; 2009 und 2014 änderte er Formulierung und Auslegung noch mal.

Wer das Geld erhalten will, muss der Rentenversicherung mindestens fünf Jahre lang angehört, also in Deutschland gelebt und gearbeitet haben. Wer, wie viele Sinti und Roma, nach dem Ghetto nie in Deutschland arbeitete, erfüllt die Kriterien nicht.

Im Ghetto musste man sich jedes Stück Brot, jeden Teller Suppe erarbeiten

Władysław Wejs, Überlebender

Es gibt auch Ausnahmen, etwa für Menschen, die ihre Angehörigen gepflegt haben oder während des Kriegs geflüchtet sind. Diese Ausnahmen gelten aber nur für über 14-Jährige. Das ist der Grund, aus dem Władysław Wejs bislang vergeblich auf Geld wartet: Er floh nach dem Krieg vor der Verfolgung durch die Wälder. In seinem 14. Lebensjahr lebte er schon längst in Polen.

Linkspartei will schnell handeln

Was sagt die deutsche Rentenversicherung zu solchen Fällen? „Es ist schwierig, etwas an der Ghetto-Rente zu ändern und trotzdem noch die Gleichbehandlung gegenüber anderen Renten zu bewahren. Eine Änderung der Ersatzzeitenregelung wäre möglich – aber das ist eine politische Entscheidung“, sagt Roland Moser von der Knappschaft Bahn-See der taz.

Die politische Entscheidung könnte unmittelbar bevorstehen: Die Linkspartei hat im Sommer einen Antrag im Bundestag gestellt, der bald im Ausschuss für Arbeit und Soziales diskutiert wird. „Gerade für diese besonders verletzliche Gruppe der Kinder, die bis heute schwer traumatisiert sind, muss eine besondere Lösung geschaffen werden“, kommentiert Ausschuss-Mitglied Azize Tank gegenüber der taz. „Wir müssen schnell handeln!“, sagt die Linkspartei-Politikerin.

Auch Władysław Wejs läuft die Zeit davon: „Ich bin jetzt schon 78. Und meine Gesundheit wird immer schlechter“, sagt er, die Stelen des Mahnmals im Rücken. „Ich hoffe, dass ich das noch erlebe.“

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12 Kommentare

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  • Es gibt leider noch mehr beschämende offene Entschädigungspunkte.

    Dazu gibt es ein aktuelles, gut recherchiertes Buch, welches u.a. hier rezensiert wurde:

    http://www.taz.de/Band-zu-Entschaedigung-von-NS-Opfern/!5328073/

     

    Das Thema hat auch viel mit der heutigen EU zu tun. Kein Land, kein hoher Politiker möchte es sich mit Deutschland aufgrund offen kommunizierter Forderungen "verscherzen". Da bleiben besser die eigenen Staatsbürger mit Rechtsanspruch gegenüber D mittellos (siehe z.B. Italien).

  • 4G
    4845 (Profil gelöscht)

    Neben Juden, Sinti und Roma wurden und werden auch andere Opfer des Nationalsozialismus genau so behandelt. Ach nichtjüdische Zwangsarbeiter bekamen nach dem Krieg weder eine Rente noch eine Entschädigung.

    • @4845 (Profil gelöscht):

      Das ist ebensowenig tolerierbar, aber ist das ein Grund, dass andere wenige Menschen, die Leid durch das 3. Reich erfuhren, keine Rente erhalten?

       

      Im Text steht:

      "Erst 2002 hat der Bundestag das Ghetto-Renten-Gesetz erlassen; 2009 und 2014 änderte er Formulierung und Auslegung noch mal."

       

      Auch für diese wenigen Menschen kam der Beschluss erst ca. 60 Jahre nach Kriegsende. Vielleicht kommen ja noch Beschlüsse hinzu? (Auch wenn kaum vorstellbar und irgendwann auch sinnlos)

      • 4G
        4845 (Profil gelöscht)
        @Hanne:

        "Das ist ebensowenig tolerierbar, aber ist das ein Grund, dass andere wenige Menschen, die Leid durch das 3. Reich erfuhren, keine Rente erhalten?"

         

        Habe ich denn etwa behauptet es wäre deshalb tolerierbar? Habe ich etwa das eine durch das andere gerechtfertigt? Wenn Sie genauer lesen wird Ihnen klar, dass dies nicht der Fall ist. Ich habe diesen Artikel durch eine zusätzliche Information ergänzt die in der Öffentlichkeit ebenfalls gerne vergessen wird. Mehr nicht.

  • Die Begründung für die Rentenverweigerung ist an Arschlochhaftigkeit kaum mehr zu überbieten!

     

    Ich schäme mich, Deutscher zu sein!

  • Die Hoffnung von Władysław Wejs darauf, dass er die Änderung des Ghetto-Renten-Gesetzes noch erlebt, teile ich unbedingt. Nicht allein seinetwegen (und seine Geschichte müsste allein schon Grund genug sein zum sofortigen Handeln - und dafür, sich in Grund und Boden zu schämen für den Zeitverzug), sondern auch um unseretwillen, um der Kinder, Enkel und Urenkel jener Menschen willen, die Unrecht nicht nur nicht verhindert haben seinerzeit, sondern sogar angeordnet.

     

    Ich finde, es ist höchste Zeit, dass die deutsche Regierung sich erkennbar distanziert von der bürokratiegestützten Unmenschlichkeit deutscher Väter, Großväter und Urgroßväter. Natürlich nur, wenn sie diesen Leuten nicht ähnlich bleibt bzw. wieder will. Und in dem Punkt muss ich Roland Moser von der Knappschaft ganz entschieden widersprechen: Ob die Bundesregierung als (Volks-)Vertretung deutscher Rentenbeitragszahler die Ähnlichkeit zur NS-Regierung sucht, ist nicht nur eine politische Entscheidung. Es ist auch eine moralische.

     

    Im Übrigen finde ich nicht, dass die Bundesregierung oder die Rentenversicherungsträger im Fall der Ghetto-Kinder "die Gleichbehandlung [..] bewahren" müssen. Andere Rentner mussten schließlich nicht schon mit fünf Jahren Sklavenarbeiten verrichten aufgrund der fehlenden Moral deutscher Politiker und Beitragszahler. Man sollte nicht nachträglich gleich machen wollen, was niemals gleich gewesen ist. Auch nicht aus Geiz oder aus Angst vor Konsequenten.

    • @mowgli:

      Gestern schnitt ich das Thema im MM in München an. Ein ganz Hochprozentiger tat das Thema mit dem Vermerk Schmarrn H10 ab.

      Empfehle übrigens so by the way das Buch "Der Junge im gestreiften Pyjama" ...

  • Das ist die zweite deutsche Schuld.

    Als ob irgendwer sie testen wollte bekamen die Deutschen die Chance zu zeigen,dass sie bereuten und verstanden hatten,was sie getan hatten.Aber leider haben sie ein zweites Mal versagt.

    Erinnert irgendwie an die Weihnachtsgeschichte mit den 3 Geistern.

    Tja,lieber Ebenezer,du hast es vermasselt.

  • Banken retten aber Nazi Opfer alleine lassen - wie ekelhaft. Schäm' Dich BRD

  • Wen wundert das noch? Der Staat der Lübkes und Globkes braucht das Geld schließlich für Leute wie Freislers Witwe.

  • Er war zu jung zum Arbeiten? Ja, das war er, völlig korrekt, liebe Bundesregierung. Nur habt Ihr unterschlagen, dass diese Kinder keine Alternative hatten, das hat die Nazis nämlich nicht einen Deut interessiert. Und Sie, liebe Politiker*innen wollen die Ausbeutung der Nazis in guter Tradition einfach fortführen? Sind das die "Deutschen Werte", für die Sie stehen?

     

    Ich kann gar nicht sagen, wie wütend mich so etwas macht. Halten Feierstunden zum Holocaust ab und haben nichts, aber auch gar nichts dazugelernt!!

     

    Rente für diese Menschen - jetzt!!!

  • Einem 5jährigen Kind, welches für sein Überleben arbeiten musste, steht diese Rente zu. Ich schäme mich und bin wütend und zornig auf diejenigen, die so schamlos sind, die Rechte der Betroffenen zu negieren.