■ Israel setzt seine Offensive im Libanon fort: Ungeahnte Gewaltpotentiale
Die Offensive gegen den Libanon, mit der die israelische Armee seit dem Wochenende Dutzende von Menschen tötete und über hunderttausend zur Flucht trieb, zeigt, welches Gewaltpotential die unbefriedeten Konflikte zwischen Israel und den umliegenden arabischen Staaten enthalten. Hier ist ein Krieg eskaliert, der als solcher nur in Phasen der Zuspitzung wahrgenommen wird. Er fordert auch in „ruhigeren Zeiten“ Tote und Verletzte. Die Nahostgespräche konnten zu keiner Entspannung führen, denn die Forderung Beiruts nach einem israelischen Rückzug aus dem Libanon wird von den USA und Israel bisher ebenso „ausgeklammert“ wie alle substantiellen Forderungen der Palästinenser.
Die israelische Armee hält einen Teil des Südlibanon besetzt und beansprucht dieses Gebiet als „Sicherheitszone“, von der aus sie nach Belieben „Vergeltungsschläge“ gegen den übrigen Libanon führt. Milizen der Hisbollah, manchmal auch der Amal und Reste palästinensischer militanter Gruppen sind Israels weit unterlegene Gegner. Zu den Merkmalen dieses jahrzehntealten Krieges gehört, daß er jederzeit eskalierbar ist. Israel hat dieses Mittel mehrfach in bestimmten Phasen der Nahostgespräche eingesetzt, um Beirut und die syrische Regierung zu zwingen, alle militärischen Aktionen der schiitischen Milizen im Südlibanon und der Palästinenser zu unterbinden. Die israelische Regierung fordert damit nichts Geringeres als „ihren Teil“ des Südlibanon.
Historischer Hintergrund dieser anmaßenden Forderung ist die Vertreibung der Palästinenser aus dem heutigen israelischen Staatsgebiet 1948. Damals mußten sie zu Zehntausenden gehen. Viele von ihnen leben bis heute in Flüchtlingslagern im Libanon. Es waren zunächst palästinensische Militärverbände, die Nordisrael mit Guerilla-Angriffen unsicher machten. Zu einem tragfähigen Interessenausgleich mit den Flüchtlingen ist es seither nicht gekommen – im Gegenteil: Ansprüche der exilierten Palästinenser, und sei es auch nur auf Entschädigung für verlorenes Vermögen, wurden aus den Nahostgesprächen sorgfältig ausgespart. Israel wollte sich nie damit konfrontieren, daß seine Entstehung auf einer Vertreibung beruht. Die palästinensischen Militärverbände wurden nach dem israelischen Einmarsch in Beirut 1982 zerschlagen, die Reste des „Widerstandes“ auf Intervention der USA hin außer Landes geschafft. Doch die anhaltende israelische Besetzung des Südlibanon hat neuen militärischen Widerstand erzeugt, der seither vor allem von schiitischen Libanesen ausgeht.
Als Besatzungsmacht im Libanon rivalisiert Israel aber außerdem seit langem mit Syrien, das nach dem Ende des libanesischen Bürgerkrieges vor allem den Osten des Landes kontrolliert. Was die jüngste israelische Offensive im Libanon von früheren Zuspitzungen unterscheidet, ist nicht nur ihr Ausmaß. Diesmal wurden auch Stellungen der syrischen Armee angegriffen. Die israelische Regierung geht offensichtlich davon aus, daß Syrien aus Furcht vor einer Schlechterstellung in den Nahostverhandlungen stillhalten wird. Damaskus wird auf diesem Wege nicht nur die Forderung übermittelt, sich als arabische Besatzungsmacht gegen den antiisraelischen militärischen Widerstand im Südlibanon zu stellen. Die israelische Regierung schafft damit zugleich neues Verhandlungsterrain. Von den USA wird sie sich von weiteren Angriffen nur zurückpfeifen lassen, wenn sie dafür etwas bekommt. Das könnte neben einem harten Durchgreifen Syriens zugunsten der israelischen Besatzungsmacht im Libanon auch mehr Nachgiebigkeit im Konflikt um die syrischen Golanhöhen sein. Vor allem aber ein Aufgeben des syrischen Junktims: volle Anerkennung Israels nur, wenn auch der Konflikt mit den Palästinensern in den Verhandlungen geregelt wird. Nina Corsten
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