Unerträgliches Nichtstun: Ein Plädoyer für Langeweile
Langeweile ist ein unangenehmes Gefühl, dem wir entkommen wollen. Dabei kann Nichtstun auch kreative Prozesse in Gang setzen.
Die Uhr tickt. Sehr langsam. Jeder Schritt des Minutenzeigers scheint eine Ewigkeit zu dauern. Es gibt nichts zu tun, außer wie hypnotisiert den Zeiger zu beobachten …
Es ist ein Phänomen der Langeweile, dass die Zeit stillzustehen scheint. Je mehr wir darüber nachdenken, desto intensiver wird das Gefühl. Kein Wunder, dass wir einen Ausweg suchen – irgendetwas, womit wir uns beschäftigen können. Instinktiv blicken wir uns nach Ablenkung um, manchmal finden wir sie sogar.
Doch dabei übersehen wir, dass die Langeweile auch hilfreich sein kann. Etwa als Signal und als Motivation, etwas an unserer Situation zu ändern. Sind wir mit unserer Arbeit andauernd gelangweilt, sollten wir uns vielleicht neue Herausforderungen suchen. Das muss nicht gleich ein neuer Arbeitsplatz oder ein ganz neuer Beruf sein. Möglicherweise genügt es schon, mit dem Chef neue Ziele zu setzen oder zusätzliche Verantwortung zu übernehmen. Aber: Um den Antrieb zu einer Veränderung zu finden, sollten wir auf unsere Langeweile hören.
Dass das nicht leicht ist, zeigt auch eine Studie, die von einem Forscherteam um den Sozialpsychologen Timothy D. Wilson von der University of Virginia, Charlottesville, durchgeführt wurde. Testpersonen mussten 15 Minuten lang in einem leeren Raum aushalten. Sie sollten ihren Gedanken nachgehen und sonst nichts tun. Das klingt eigentlich gar nicht so schlimm, immerhin ist es eine vergleichsweise kurze Zeit.
Doch offenbar war das schon zu lange für einige der Testpersonen. Denn in einem zweiten Durchgang hatten sie die Möglichkeit, sich per Knopfdruck einen elektrischen Schock zuzufügen. Und tatsächlich machten viele davon Gebrauch: Etwa zwei Drittel der Männer und immerhin ein Viertel der Frauen verabreichten sich lieber einen schmerzhaften Schock, als ohne Beschäftigung herumzusitzen. Noch beeindruckender war, dass alle Teilnehmenden der zweiten Runde zuvor angegeben hatten, sie würden sogar Geld bezahlen, um einen Schock zu vermeiden. Wie unangenehm dieses Gefühl der Langeweile doch sein musste!
Reales Leben vs. Laborsituation
Das Ergebnis dieser Studie sollte man allerdings relativ sehen, sagt Sabrina Krauss, Professorin für Psychologie an der SRH Hochschule Hamm. „In reizarmen Räumen zu sitzen, ist nicht unsere Normalität. Solche Situationen mögen wir nicht.“ Zu Hause im Garten zu sitzen sei eine vollkommen andere Sache. Wie so oft ist es schwierig, die recht sterilen Laborergebnisse auf das reale Leben zu übertragen.
Schaffen wir es, in unserem Alltag ab und zu Langeweile zuzulassen, kann uns das helfen, zur Ruhe zu kommen, so Sabrina Krauss. „Wir brauchen Momente, in denen sich unsere Gedanken sortieren. Das kommt aber zu kurz, wenn wir uns bei der kleinsten Langeweile sofort ablenken.“
Ein allgemein gültiges Konzept, das für jede*n passt, gibt es freilich nicht. Manche Menschen können besser mit Langeweile umgehen und sie sinnvoller umsetzen als andere. Was für eine Person unerträglich scheint, führt andere auf den Weg zu einem kreativen Denkprozess.
Die Langeweile selbst ist jedoch nicht kreativ, betont John Eastwood, Associate Professor im Department of Psychology der York University in Toronto, Kanada. Für ihn ist es „das unangenehme Gefühl, eine zufriedenstellende Aktivität ausführen zu wollen, aber nicht zu können.“ Anders gesagt: Wir möchten eigentlich etwas tun, doch uns steht nichts zur Verfügung, was uns in diesem Moment erfüllen würde.
Eastwoods Definition schließt einen kreativen Prozess also aus, denn wenn wir in unseren Gedanken aufgehen, sind wir konzentriert und interessiert. „Sobald unser Gehirn im richtigen Maß angeregt ist, endet die Langeweile“, sagt John Eastwood. Was uns wieder zur Motivation bringt: Das unbefriedigende Nichtstun sorgt in diesem Fall dafür, dass das Gehirn nach alternativen Beschäftigungen sucht, und bringt es dadurch in die Lage, kreativ zu denken.
Während ein wenig Langeweile uns also sogar helfen kann, sollte es nicht zum Dauerzustand werden. Denn das kann zu allen möglichen negativen Verhalten führen. So essen wir beispielsweise mehr und ungesünder, wenn wir uns langweilen. Selbst mit depressiven Symptomen gibt es einen Zusammenhang – ob die Langeweile jedoch eine depressive Stimmung auslöst oder Menschen mit Depressionen schneller gelangweilt sind, ist bisher nicht bekannt.
Sicher ist, dass manche Menschen öfter unter dem Gefühl leiden als andere. Das hängt von der Persönlichkeit ab, von der Umwelt und auch davon, wie gut Jede*r mit Langeweile umgeht. Zumindest einige dieser Aspekte können wir beeinflussen. Etwa, indem wir an einen Ort gehen, der uns geistig anregt, oder uns mit Menschen treffen, mit denen wir interessante Gespräche führen können. Den Umgang mit der Langeweile können wir sogar üben, sagt Sabrina Krauss: „Sich einfach mal ein paar Minuten allein hinzusetzen und nichts zu tun, ist ein guter Anfang.“ Dabei sollte man es langsam angehen, eine Minute genüge vorerst. Von dort aus könne man sich steigern und dadurch lernen, das Gefühl auszuhalten.
Manchmal sind wir auch gezwungen, monotone Aufgaben zu erledigen. Da gibt es kein Entkommen, weil die Arbeit nun einmal getan werden muss. Möglicherweise hilft es, in Tagträumen über den nächsten Urlaub zu versinken – doch was, wenn auch das nicht geht?
Monotone Arbeiten
Nehmen wir an, wir müssen bei der Arbeit Zahlen vom Blatt in den Computer übertragen. Das fordert genug Hirnkapazität, um ein Abschweifen ans Meer zu verhindern, ist aber dennoch monoton. John Eastwood findet, dass wir auch solche Situationen in wertvolle Momente verwandeln können. „Wir sollten dazu die Aufmerksamkeit auf die kleinen Dinge richten. Je mehr wir bemerken, desto interessierter werden wir.“
Auf das Beispiel mit den Zahlen übertragen, könnten wir zum Beispiel in den nichtssagenden Nummern nach Primzahlen suchen, kleine Rechenaufgaben im Kopf machen oder für uns wichtige Daten entdecken.
So wird eine Art Spiel daraus, das sogar unsere geistigen Fähigkeiten schult. Was uns zu dem nächsten Punkt bringt: Wenn wir überzeugt davon sind, dass eine Tätigkeit gut für uns und unsere Gesundheit ist, führen wir sie freiwilliger und besser aus.
Dieses Wissen können wir nutzen, um entweder das Positive in unseren Aufgaben zu finden oder um das Nichtstun besser zu ertragen. Gehen wir doch zum nächsten Arzttermin gleich mit der Einstellung, dass uns die Wartezeit eine gute Möglichkeit zur nützlichen Langeweile bietet. Vielleicht schaffen wir es dann, die Monotonie auszuhalten, den Frust zu vergessen und stattdessen unsere Gedanken in Ruhe zu sortieren.
Hoffentlich erwischen wir nicht ausgerechnet einen Tag, an dem es in der Praxis richtig schnell geht. Denn zu Hause erwarten uns möglicherweise schon die nächsten Ablenkungen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren