Und so also ist Amerika

■ Altes aus der Neuen Welt: Das Broadway-Musical »Grand Hotel« im Theater des Westens

Das Alte leuchtet noch einmal auf, als Déjà-vu, Wiederholung oder Kitsch. Nostalgisch oder zeitgeistbewußt erleben Stoffe aus den späten 20er Jahren eine Renaissance auf den Berliner Bühnen. Die Wiederholungen sind aber selbst schon second-hand. Alle Rechte auf den mehrfach verfilmten, 1928 erschienenen und »weltberühmten« Berlin-Roman Menschen im Hotel der Österreicherin Vicki Baum haben die Vereinigten Staaten. Am Broadway inszenierten Tommy Tune und seine Freunde 1989 das Buch als Musical Grand Hotel und erhielten dafür fünf Tony-Awards.

Nach Tourneen durch die USA ist das Musical nun nach Berlin, an den Ort seiner Handlung zurückgekehrt. »Wir haben großes Glück und haben es unserem Ruf zu verdanken, daß wir das Musical spielen dürfen und das ist 'ne sehr aufregende Sache«, meint Intendant Helmut Baumann. Im Frühjahr übernimmt eine Londoner Bühne, andere werden folgen. Bühnenbild, Kostüme, jeder Schritt auf der Berliner Bühne entspricht der Broadway-Inszenierung. Nur die Schauspieler unterscheiden sich. Das amerikanische Regieteam reist durch die Welt und wird noch eine Zeit lang von den Rechten am Roman und der eigenen Inszenierung leben können.

Zwei Monate lang hat man geprobt. Als Gaststar verpflichtete man die ehemalige Ballettänzerin Lesli Caron, den puppengesichtigen Hollywoodstar aus Ein Amerikaner in Paris. Wie es bei intelligenten Filmstars üblich ist, hat sie nach zwanzig Jahren Hollywood vor einigen Jahren schreibenderweise mit dem Mekka amerikanischer Filmindustrie abgerechnet und ist inzwischen mehr im Fernsehen als auf der aktuellen Leinwand zu finden. Wie die meisten anderen Schauspieler wechselt sie sich mit einer Alternativbesetzung — der ehemaligen Solotänzerin des Friedrichstadtpalastes, Elke Rieckhoff — ab.

Neben den Proben mußte Leslie Caron, die die alternde Primaballerina Gruschinskaja spielt, täglich Tanz- und Sing- und Deutschsstunden nehmen. Sie würde »wie ein Soldat« an ihrer Rolle arbeiten, sagte sie mehrfach, allerdings noch im Dezember. Daß es in Potsdam aussehen würde »wie nach einem Krieg«, wirkt inzwischen wie ein Satz aus längst vergangenen Zeiten. Ein paar Meter weiter und unter dem Titel »Zensur macht's möglich« verkündet inzwischen die Wandzeitung am Kudammeck die Erfolgsmeldungen der Alliierten.

Die Klischees der abgeschlossenen Luxuswelt des Grand Hotel, die das Theater des Westens bei der Premiere mit Pagen, die die Türen der Taxis oder Mercedes-Pullmanns öffnen, mit roten Teppichen, mit gediegenem Grand-Hotel-Emblem über dem Eingang noch einmal bemüht, greifen in Berlin nicht mehr. Die Traumwelt des Glamour, des unbeschadet prunkenden Neuen Westens, der dem armen Osten der Friedrichstraße gegenübersteht, wird nicht nur durch die drohende (immerhin einmal westliche) Abwicklung eines Großteils des hauseigenen Ensembles in Frage gestellt, sondern auch dadurch, daß der am heftigsten umlagerte Premierengast, Walter Momper heißt und auf der politischen Bühne inzwischen eher von geringerer Bedeutung ist. Das weiß er vielleicht auch selber, jedenfalls mußte ihn das Fernsehen lange bitten, bis er dann über den roten Teppich des Haupteingangs schritt.

Ewige Typen variieren im Musical ewige Themen des B-Films: Geburt, Tod, Alter, Jugend, Liebe, Mord, Sehnsucht, Reichtum und Armut. Lebensmüde Feldärzte aus dem Ersten Weltkrieg treffen auf ehrliche Diebe, die alternde Primaballerina verliebt sich in den verarmten jungen Baron, der Generaldirektor begegnet seinem todkranken Buchhalter und die hübsche Sekretärin sehnt sich nach Hollywood.

Blau und silbern oder im einsaugenden Mokkabraun teurer Schokoladen leuchtet die Bühne. Geigen schmeicheln. Die Musik schmiert sich operettenhaft eingängig ins Ohr. So ist man erleichtert über Eric Lee Johnson und F. Dion Davies, die kostümiert wie Sarotti-Neger — als Supporting act quasi, denn im Roman gibt es nur einen kräftigen schwarzen Boxer — Charleston tanzen, und als zwei »Jimmys«, die ihre Jazzband verloren haben, an der Bar singen. Das Bühnenbild ist nicht realistisch, sondern will, wie einer der Regieassistenten erklärte, quasi »als Überhöhung, Metapher ‘Hotel‚« verstanden werden. Zwar gibt es als Requisiten nur 42 Stühle — man beschäftigt einen »Chairographen«, der allein für die Stellung der Stühle zuständig ist — und die Bühne ist im Grunde genommen eher einfach und schlicht aufgebaut, doch die Schlichtheit läßt man sich was kosten. Vier Säulen blinken exquisit und teuer, denn 4 Säulen sind das teuerste Hotel Europas, sind Zimmer, Empfangshalle, Telefonzentrale, Ballsaal. Darüber thront das Orchester. »Sie leben hier und fressen für 1.000 Mark am Tag«, ruft der proletarische Heizerchor ab und an in Erinnerung und klappert dazu blechern.

Leslie Caron erscheint im weißen Pelz und Purpur, fast als Karikatur mondäner Historienfilme. Zart, zerbrechlich, schmal und damenhaft tanzt sie im Balletkleid, mit einem bezaubernden Akzent in der dünnen Stimme mag sie auf der Leinwand überzeugend sein; auf der Bühne fehlt ihr die Präsenz. Vielleicht liegt's auch nur an der gerade überstandenen Grippe. »Der sterbende Schwan in einer Zeit, als 1.000 junge Männer im Felde verbluten« erntet jedenfalls Buhrufe, die genauso antagonistisch wirken, wie das gesamte klebrig-süße Operetten/Musical- Gemisch, das die ausgeklügelt strenge und schöne Choreografie, die zauberhaften Kostüme und die großartigen Schauspielerleistungen von Michelle Becker als »schreibmaschineschreibendem Wesen«, von Helmut Baumann, als überzeugend todkranken, armen, jüdischen Buchhalter Kringelein oder vom stimmgewaltigen Operettenbariton Jürgen Wagner als Baron von Gaigern, vergessen läßt.

»Weltstadtformat« hatte man angestrebt, ein schöner Dialog wenigstens bleibt zurück: »Und wo ist dann Ihr neues Leben, wenn Flämmchen Sie wieder verläßt?« fragt der Feldarzt den Buchhalter am Ende. — »Wo's niemals vorher war — hinter mir.« Detlef Kuhlbrodt

Grand Hotel im Theater des Westens. Regie und Choreographie: Tommy Tune. Musikalische Leitung: Rolf Kuhn. Bühne: Tony Walton. Mit Lesli Caron, Ferdinand von Plettenburg, Helmut Baumann u.a.