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■ Unaufhörlich reißt das Oder-Wasser an den weichen Deichen. Nach dem ersten großen Bruch bei Frankfurt müssen die Menschen ihre kleinen Dörfer fluchtartig verlassen. Doch viele Einwohner sträubten sich gegen eine Evakuierung."Ich gehe nur

Unaufhörlich reißt das Oder-Wasser an den weichen Deichen. Nach dem ersten großen Bruch bei Frankfurt müssen die Menschen ihre kleinen Dörfer fluchtartig verlassen. Doch viele Einwohner sträubten sich gegen eine Evakuierung.

„Ich gehe nur in Handschellen“

Wiesenau am frühen Abend, eine Stunde vor der Wasserwelle: In dem 1.250-Einwohner-Dorf patrouillieren Polizisten mit Hunden durch die Kirchstraße. Die Straße ist die erste Häuserreihe des Dorfes, dahinter kommt nur noch Wald, Wiese und dann die Ernst- Thälmann-Siedlung, die schon am Morgen evakuiert werden mußte und längst überflutet ist. Bürgermeister Rainer Gublak läuft mit einer Namensliste von Haus zu Haus und bittet die Wiesenauer, sofort den Ort zu verlassen. Das Wasser ist nur noch 600 Meter entfernt. Schafe und Ziegen sind bereits evakuiert, die Kühe standen zeitweise bis zum Hals im Wasser.

Wenn sie nicht bald gingen, droht der Bürgermeister freundlich, aber bestimmt den Wiesenauern, würden sie mit physischer Gewalt dazu gezwungen. Ein Anwohner schreit: „Ich gehe nur in Handschellen, ich werde mein Haus verteidigen.“ Auf dem Kirchplatz schaufelt die freiwillige Feuerwehr unterdessen immer neue Säcke mit Sand voll. Niemand hat in dem Dorf, das einige Kilometer nördlich von Brieskow-Finkenheerd liegt, damit gerechnet, daß das Wasser so schnell kommt. „Wir haben heute erst angefangen abzusichern“, sagt Feuerwehrmann Volkmar Lehmann mit zackigem Ton: „Wir haben hier keine Verteidigungslinie.“ Eine junge Frau kommt auf den Platz und erkundigt sich bei der Polizei, wo die Flutwelle bereits gewütet hat. Die Polizisten zucken nur hilflos mit den Schultern. Niemand weiß genau, wo das Wasser ist. Inzwischen soll auch der Deich bei Aurith gebrochen sein, das Dorf stünde schon 2,70 Meter hoch unter Wasser, heißt es. Aber eins ist klar: Das neue Haus von Ute Egert zwischen Aurith und Kunitzer Loose ist geflutet. Es liegt nur 800 Meter von der Stelle entfernt, an der früher einmal Dämme die Oderfluten begrenzten.

Früh um 8 Uhr war der Deich am Kilometerstein 17,8 gebrochen. Der Erdwall konnte nördlich von Brieskow-Finkenheerd den Wassermassen nicht mehr standhalten. In kurzer Zeit verbreitert sich das Loch auf 80 Meter. Die Flutwelle rollt in Richtung Ernst-Thälmann- Siedlung, wo 184 Menschen evakuiert wurden. Zunächst zögerlich, doch als der Damm hinüber war, freiwillig, sagt Amtsdirektor Reimar Vögele.

Am Dienstag nachmittag war in Aurith von Panik noch keine Spur. In dem Dörfchen herrschte eher aufgeregtes Chaos. Rotgesichtige junge Männer von der freiwilligen Feuerwehr dominierten die buckligen Straßen. Die Jungs, manche mit einer Pulle Bier in der Hand, spielten „Deichläufer“.

Heinz Thurian beobachtet das emsige Treiben ohne Hast. Er müßte eigentlich besonders nervös sein, denn sein Haus liegt am Ortsende, direkt am Deich. Das Dorf zu verlassen, daran denkt der alte Mann jedoch an diesem Tag noch nicht. Er wohnt seit 1946 hier und hat die große Flut 1947 mitbekommen. „Doch damals war es nicht so schlimm, das Wasser war nicht so hoch“, erinnert er sich. Auch als die Sirene losgeht, ein einminütiges schrilles Pfeifen, das Zeichen, daß die Bewohner das Dorf verlassen sollen, ist er nicht irritiert. Er zeigt stolz seine halb zugemauerte Haustür und die aufgeschichteten Sandsäcke vor den Fenstern.

Doch seine Frau und die Enkelkinder haben das Dorf bereits verlassen. Die Hunde, Katzen und Schweine sind zu Bekannten, 20 Kilometer weiter, verfrachtet worden. Nur die Gänse schnattern noch im Gatter. „Sie können schwimmen“, weiß Heinz Thurian, „dann mache ich einfach die Käfige auf.“ Zwangsevakuieren, „zu seinem Glück zwingen“ – wie es Innenminister Alwin Ziel sagte –, läßt er sich nicht.

Ratzdorf, dort wo Neiße und Oder zusammenfließen: Aufgeregt und hektisch sind nur die unzähligen Helfer. Zu essen und zu trinken gibt es kaum mehr etwas in den Gaststätten. Das Lokal „Oderblick“ hat geschlossen. Türen und Fenster sind mit Holzplatten verrammelt. Doch obwohl in dem Ausflugslokal keine Gäste mehr bewirtet werden, herrscht Hochbetrieb. Vor dem Haus haben 30 Soldaten der Bundeswehr ihre Lager aufgeschlagen. In hüfthohen olivgrünen Gummihosen füllen sie Säcke mit Sand und schleppen sie zur Oder.

Karin Serowy ist ganz ruhig. In hohen Gummistiefeln steht sie in ihrem Garten und beobachtet die Soldaten bei ihrer Arbeit. Sie wohnt zwischen der Gaststätte und einem angrenzenden Einfamilienhaus, das bereits bis zum ersten Stock unter Wasser steht. Karin Serowy weiß, daß ihr Haus eines der nächsten sein wird. Der Keller steht bereits unter Wasser, die Wiese vor und hinter dem Haus ist durchgeweicht. Seit einer Woche schlafen sie und ihr Lebensgefährte nur noch schichtweise. Eine Tasche, gepackt mit Papieren und einigen Kleidungsstücken, steht immer griffbereit neben dem Bett.

Als am Dienstag abend die Sirene auch in Ratzdorf ertönt und die Polizei mit Lautsprechern die BewohnerInnen auffordert, den Ort zu verlassen, entschließt sie sich zu bleiben. „Ich kann nicht alles hinter mir lassen, was ich hier aufgebaut habe“, sagt sie. Sie geht erst dann, wenn, ja wann? Wenn der Deich völlig durchgeweicht ist und wegbricht wie in Brieskow- Finkenheerd? Das weiß sie selber nicht ganz genau. „Doch mein Haus jetzt zu verlassen käme einer Kapitulation gleich.“ Julia Naumann

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