: Um die Welt ringen
Der japanische Sumoverband will seinen Sport internationalisieren, weil zu Hause die Begeisterung und der Nachwuchs schwinden

Aus Tokio Felix Lill
Nobuyoshi Hokutoumi hat in seinem Sport schon alles erlebt: Als junger Mann war der heute 62-jährige ein so versierter Sumoringer, dass er fünf Jahre lang als Yokozuna auftreten durfte, als Großmeister seines Sports. Seit zehn Jahren führt er unter seinem Ringnamen Hakkaku Japans renommierten Sumoverband als Präsident an. Dieser Tage aber ist der Routinier nervös. „Wir werden alles tun, damit die Fans genießen können, was sie sehen“, erklärte er kürzlich. „Damit sie das Besondere am Sumo verstehen!“
Hokutoumi steckt nämlich mitten in Reisevorbereitungen. Mitte Oktober geht es für ihn und 40 aktuelle Ringer ans andere Ende der Welt: Vom 15. bis 19. Oktober tritt die Sumowelt – die sich bisher im Wesentlichen auf Geschehnisse in Japan beschränkt – zu einem Turnier nach London in die noble Royal Albert Hall. Im Juni 2026 folgt die zweite Etappe der Welttournee mit einem Auftritt in Paris. Weitere Gastspiele könnten folgen. Denn Sumo will international werden.
Für diese älteste aller Sportarten, die in Japan entstanden sind, ist es auch eine Flucht nach vorn. Denn im Ursprungsland, wo Sumo vor Jahrtausenden zunächst zum Zeremoniell am kaiserlichen Hof gehörte, vor rund 400 Jahren zum Wettkampfsport wurde, steckt die Kampfdisziplin schon länger in einer Krise: Es mangelt an Nachwuchs. Die zwei populärsten Sportarten sind heute Baseball und Fußball. Der mit großem Abstand beliebteste Sportler des Landes ist laut einer Umfrage Shohei Ohtani, der in der US-amerikanischen Baseballliga MLB unentwegt Rekorde bricht. Es folgen der Volleyballspieler Yuki Ishikawa und der Boxer Naoya Inoue. Auch die Fußballer Kaoru Mitoma und Takefuso Kubo sind unter den Top Ten vertreten. Ein Sumoringer aber steht nicht auf der Liste.
Wenn eines der jährlich sechs großen Turniere im Sumo läuft, übertragen zwar alle möglichen Ramen-Restaurants, Izakayas und Kneipen live. Aber diejenigen, die hinsehen, sind vor allem ältere Menschen. Unter jüngeren Jahrgängen gilt Sumo oft als altmodisch, sowohl in ästhetischer als auch in ethischer Hinsicht.
Der auf Traditionen bedachte Ablauf vor und nach einem Kampf – vom Streuen von Salz im Ring zur Reinigung bis zum Verbot von Frauen im Ring wegen vermeintlicher Unreinheit während der Menstruation – spricht viele Menschen nicht mehr an. Und diverse Skandale über die letzten Jahre – von illegalen Wetten über Mobbing bis zu Vorfällen von roher Gewalt jenseits des Rings – hatten eine abstoßende Wirkung.
Gewissermaßen ist Sumo auch ein Opfer des gestiegenen Wohlstands in Japan. Als im Land noch Armut herrschte, hatte ein Sumostall, in dem die Ringer wohnen und trainieren, die Wirkung eines Sozialsystems: Wer es mit Kraft und Disziplin dorthin schaffte, zahlte nicht für Essen und Unterkunft. Doch das Leben im Stall verlangt den Athleten viel ab: Die strengen Hierarchien geben vor, dass der Jüngste täglich kochen muss. Man schläft teils auf dem Boden in der Küche.
„Dass der Nachwuchs dem Sumo fernbleibt, ist ein langer Trend“, sagt Koichi Nakano, Politikprofessor an der Sophia Universität in Tokio. „Es gibt schlicht nicht mehr genügend junge Menschen, die dieses Leben führen wollen.“ Wobei allerorten Personalmangel beklagt wird. Japans Bevölkerung altert und schrumpft.
Was ist zu tun? „Talente aus dem Ausland anzuwerben, zählt schon länger zur Strategie“, beobachtet Nakano. Tatsächlich kamen die meisten Yokozuna, also die ranghöchsten Ringer, über die vergangenen zwei Jahrzehnte aus der Mongolei, wo es eine ähnliche Kampftradition gibt. Auch Ringer aus Hawaii und Ägypten haben es zu Erfolgen gebracht. Ebenso sorgen Kämpfer aus Europa für Furore. Aonishiki, der über Umwege als Flüchtling aus der Ukraine ins Land kam, gilt aktuell als möglicher künftiger Yokozuna.
So tourt der Sumozirkus nun um die Welt. Man wirbt mit großen Versprechen: „Tauchen Sie ein in die Welt alter Rituale, außergewöhnlicher Stärke und reicher Tradition – erleben Sie Sumoringen, eine der ältesten Sportarten der Welt“, wirbt die Royal Albert Hall, in der normalerweise klassische oder Jazzkonzerte stattfinden, auf ihrer Website. „Fünf Tage lang verwandelt sich die Halle in einen Tempel des Sumosports, mit einem authentischen Boden aus Erde und Sand und einem Dach, das an einen Shintoschrein erinnert“, heißt es weiter. Dieser Griff in die Exotikkiste ist wohl gewählt. Denn seit Jahren erlebt die japanische Kultur einen weltweiten Boom. Teetrinkerinnen lieben heute Matcha, Fans von Keramik schwören auf Tassen aus Japan, Reisende zieht es in Scharen ins ostasiatische Land. Warum sollte dann nicht auch Sumo die Massen begeistern?
Tatsächlich macht der Sport dies auf eine Weise schon. Mitte September schwärmte etwa Asahi Shimbun, die zweitgrößte Tageszeitung des Landes: „Im Jahr 2024 waren alle Plätze für alle sechs,Honbasho'-Turniere – 15-tägige Wettkämpfe, die über 90 Tage im Jahr stattfinden – ausverkauft.“ Es war das erste Mal seit 1996, dass alle Turniere vor voll besetzten Tribünen stattfanden. Den Unterschied machen die Reisenden aus dem Ausland. Ähnlich ist es in den Ställen, die an Touristen Tagestickets fürs Morgentraining verkaufen.
„Sumo ist noch nicht so internationalisiert, wie es sein könnte“, sagt Koichi Nakano. Was sich unter anderem daran zeigt, dass es keinen Sumo-Weltverband gibt und kaum Wettbewerbsstrukturen außerhalb Japans. Und die Ticketpreise in London – teils mehrere Hundert Euro – deuten an, dass sich die Veranstalter doch mehr über schnelles Geld freuen als über langfristige Nachwuchsarbeit.
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