Politik: Um den Tunnelhalt herum
Der Ergänzungsbahnhof, der Kapazitätsengpässe bei Stuttgart 21 abfedern sollte, ist auf Eis gelegt. Stattdessen stellt Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) ein Gutachten mit neuen Ergänzungsmaßnahmen vor, die vor allem ein Ziel haben: Verkehr vom Nadelöhr Tiefbahnhof fernhalten.
Von Oliver Stenzel
Zwei grob parallele Linien, schnell gezeichnet mit Kugelschreiber, das sollte der Stuttgart-21-Tiefbahnhof sein, dann im rechten Winkel dazu ein paar weitere Striche: Eine frühe Visualisierung von Winfried Hermanns Idee eines Ergänzungs-Kopfbahnhofs konnte Kontext-Fotograf Joachim E. Röttgers Ende Dezember 2018 einfangen.
Das milliardenschwere Großprojekt bezeichnete Hermann damals als „grandiose Fehlentscheidung“ und „anfälliges Engpasssystem“. Und um dessen Risiken abzufedern, schwebte ihm da schon ein ergänzender Halt nahe der geplanten unterirdischen Durchgangsstation vor. Doch in die Öffentlichkeit tragen wollte er das Konzept noch nicht.
In die Öffentlichkeit kam die Idee dann ein halbes Jahr später, am 16. Juli 2019, und zwar in Form eines unterirdischen Ergänzungs-Kopfbahnhofs. Sofort sorgte das für heftigen Widerspruch bei der Stadt Stuttgart und beim Regionalverband.
Schon zuvor hatte die Mehrheit des Stuttgarter Gemeinderats deutlich gemacht, unter keinen Umständen auch nur einen Quadratzentimeter der Flächen abzutreten, auf denen nach der Tieferlegung des Bahnhofs ein neues Stadtviertel entstehen soll. Die Ergänzung unterirdisch umzusetzen, war also schon eine Form des präventiven Entgegenkommens.
Der politische Gegenwind blieb bis zuletzt
Trotz Gegenwind schafft es die Idee in den grün-schwarzen Koalitionsvertrag 2021: „Wir setzen uns aktiv für weitere Ergänzungen ein, die die Kapazitäten von Regionalverkehr und S-Bahn (…) erweitern.“ Als ein Element wurde dabei auch „die Ergänzungsstation und ihre Zuläufe“ genannt. Die Südwest-CDU habe damit „eingeräumt, dass der S-21-Tiefbahnhof nicht hält, was seine Fans so lange versprochen haben“, war damals in Kontext zu lesen.
Das war vermutlich zu optimistisch. Weder auf Landes- noch auf Regional- noch auf Stadtebene machten sich CDU-, FDP- oder SPD-Vertreter:innen für den Ergänzungshalt stark. Und auch bei Stuttgart-21-Gegnern stieß die Idee auf wenig Gegenliebe, weil es, kurz gesagt, als falsche Lösung für ein richtig erkanntes Problem – den Engpass Tiefbahnhof – gesehen wurde.
Nüchtern betrachtet zeugt das Vorhaben zweifellos von einer gewissen Absurdität: In Stuttgart soll mit S 21 ein funktionierender Kopfbahnhof durch einen unterirdischen Durchgangsbahnhof ersetzt werden. Und weil sich irgendwann zeigt, dass der unterirdische offenbar nicht genug wird leisten können, soll er durch einen kleinen Kopfbahnhof ergänzt werden. Zu diesem Zweck soll nicht etwa ein Teil des alten Kopfbahnhofs an der bestehenden Stelle belassen, sondern die alten Gleise sollen erst einmal abgerissen und dann neue tiefer gelegt werden. Damit oben gebaut werden kann.
Doch offenbar war es nicht diese Absurdität, die dafür sorgte, dass der Ergänzungshalt nun auf Eis gelegt ist. Sondern, so Hermann, dieWissenschaft, genauer, einGutachten des Verkehrswissenschaftlichen Institutsder Uni Stuttgart (VWI) in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Verkehrsberatungsbüro SMA. Das habe ergeben, erklärt Hermann am 15. März aufeiner Pressekonferenz, dass mit den durch fortschreitende Digitalisierung ermöglichten Kapazitätssteigerungen sowie anderen, einfacher umzusetzenden Ergänzungsbauten die Ergänzungsstation gar nicht gebraucht werde (auf Anfrage bekam die Redaktion vom Verkehrsministerium eine Präsentation zu dem Gutachten, die zugleich das Gutachten sei, aber kaum etwas über die angewandte Methodik verrät).
„Wenn das so ist, muss ich das anerkennen“, sagt Hermann auf der Pressekonferenz, genau „wie wenn man nicht zweimal gegen eine Betonwand läuft, wenn man sieht, dass es daneben eine Tür gibt.“ Auf eine Journalistenfrage, ob das jetzt auch eine politische Niederlage sei, antwortet der Verkehrsminister: „Wenn ich schon in Kategorien von Sieg und Niederlage reden würde, dann müsste ich sagen: Es war ein Sieg der Vernunft und der Fachlichkeit.“
Bei der Präsentation ist Hermann schlau genug, denimmer noch S-21-gläubigen Koalitionspartner nicht zu provozieren und trotzdemzwischen den Zeilen zu sagen, dass der Tunnelbahnhof unzureichend ist. Statt zu sagen, Stuttgart 21 sei von vornherein zu klein dimensioniert, sagt Hermann, dass, um den „Schienenknoten Stuttgart“ über dasJahr 2030 hinaus zukunftsfähig zu machen, „aus Sicht vonExperten weitere Ergänzungennotwendig“ seien. Und weil die Klimaziele von Bund und Landeine Verdopplung des Öffentlichen Verkehrs erforderten, müssten „die regionalen Nahverkehrszüge ihre Kapazität verdreifachen“. Aber was istnun, um im Bild zu bleiben, die Tür neben der Betonwand, die Hermann sieht? Es sind genau genommen viele Türen, ein Bündel von Maßnahmen. Den Kern davon bildet, das so genannte „Nahverkehrs-Dreieck“. Auf dessen Strecken soll ein Teil der Regionalzüge um den tiefergelegten, engen Hauptbahnhof herumgeleitet werden.
Die drei Eckpunkte desDreiecks bilden dabei die Bahnhöfe in den Stuttgarter Stadtteilen Vaihingen, Feuerbach und Bad Cannstatt. Den langen, südwestlichen Schenkel bildet die bestehende S-Bahn-Stammstrecke zwischen Vaihingen und Bad Cannstatt.Von Vaihingen aus geht ein ähnlich langer nordwestlicher Schenkel, den die zur Nahverkehrs- und S-Bahnstrecke erweiterte Panoramabahn bildet. Nach dem neuen Gutachten soll sie nicht nur bis zu einem noch zu bauenden Nordhalt (in der Nähe des jetzigen Nordbahnhofs) gehen, sondern bis zum jetzigen S-Bahnhof Feuerbach verlängert werden.
Den kürzesten Schenkel desDreiecks bildet schließlich im Norden die Verbindung zwischen Feuerbach und Cannstatt, die durch die „Regional-T-Spange“ erreicht werden soll, die bislang unverbundene Streckenabschnitte verbindet. Nahverkehrszüge könnten so genau wie S-Bahnen denHauptbahnhof umfahren.
Digitale Wolkenkuckucksheime
Weit erstaunlicher als diese Ergänzungen erscheinen aber die von Hermann angeführten Kapazitätssteigerungen, die durch die Digitalisierung, vor allem durch das Zugleitsystem ETCS, möglich werden sollen. Dem Gutachten zufolge könnten auf dem S-Bahnnetz 25 Prozent mehr Züge verkehren.
Wem das angesichts der aktuell massiven Ausfälle und Störungen nicht schon magisch genug vorkommt, darf sich beim Tiefbahnhof noch mehr wundern: Wurde schon dessen Stresstest-Ergebnis 2011 von 49 Zügen pro Stunde von vielen Experten als völlig unrealistisch betrachtet, so sollen es nun dank Digitalisierung noch einmal rund 20 Prozent mehr sein, nämlich 59,5 Zugankünfte pro Stunde. „Die Digitalisierung ändert alles“, sagt Hermann.
„Wunschdenken“, nennt das der Physiker Christoph Engelhardt. Und der Gründer des Faktencheck-Portals Wikireal.org hat gute Argumente. Tatsächlich gibt es bislang in der Wissenschaft keine Hinweise auf entsprechende Kapazitätssteigerungen durch ETCS. Und der limitierende Faktor beim Tiefbahnhof bleibe dessen zu kleine Dimensionierung mit acht Gleisen. So viele Züge wie in dem neuen Gutachten postuliert, könnten gar nicht verarbeitet werden, die Haltezeiten seien viel zu kurz, sagt Engelhardt. Um weitere Milliardeninvestitionen in den Stuttgarter Knoten zu rechtfertigen, „wäre ein Faktencheck nötig, der den Namen verdient.“
Um Milliarden geht es in der Tat. Sämtliche in dem Gutachten aufgezählten Ergänzungsmöglichkeiten, insgesamt 115 Maßnahmen, werden nach „ersten Abschätzungen“ mit Kosten von bis zu 3,9 Milliarden Euro beziffert.
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