Ukraines Grenze zur EU: Das Geschäft der Schleuser
Seit die Ukraine an die EU grenzt, versuchen immer mehr illegale Migranten, dort über die Grenze zu kommen. Erwischt werden die wenigsten. Denn viele verdienen daran mit.
Die schmale Straße, die auf ukrainischer Seite an der polnischen Grenze entlangführt, ist in unerwartet gutem Zustand. Es gibt keine Löcher, sie ist nicht einmal besonders holprig. Es kann sie ja auch keiner kaputt fahren. Denn hier fahren keine Lkws. Hier fahren überhaupt keine Autos. Die Straße führt ins Nichts. Nach Nemyriw.
Das Grenzkaff
Kurz vor Nemyriw muss ich anhalten. Bis zur Grenze auf der grünen Wiese sind es noch etwa 15 Kilometer, trotzdem sitzt am Straßenrand ein Grenzbeamter auf einem Klappstuhl und liest Zeitung. Vor ihm ein großes Stoppschild und ein kleiner Schlagbaum mit dem Hinweis, dass wir uns im Grenzgebiet befinden. Viel zu tun gibt es für den jungen Grenzsoldaten am Kontrollposten nicht. Er guckt mich gelangweilt an und winkt mich durch. Keine illegalen Migranten, ich bin alleine im Auto. Wenige Meter weiter liegt verlassen eine Okko-Tankstelle mit nagelneuen Zapfsäulen.
Jetzt nur noch eine Linkskurve, vor der auf der linken Seite ein leeres Café auftaucht, vorbei am kleinen Dorfgeschäft, das geschlossen zu sein scheint. Noch mal links ab, der Ortsrand ist erreicht. Zwischen einem kleinen, dreistöckigen Plattenbau und einer Müllhalde am Rande eines Fichtenwaldes steht eine Bude mit allerlei Kram draußen: Holz, Metall, Plastik, Autoreifen. Das ist das Reich von Stepan.
Mich empfängt das gleichmäßige Surren einer Schleifmaschine. Zwei Männer sind dabei, eine alte Autotür zu polieren. Stepan ist nicht alleine da, heute ist sein Freund Mykola dabei - der Anlass meiner kleinen Reise ins Lemberger Hinterland.
Mykola hat gerade eine Woche Urlaub. Der kräftige untersetzte Fähnrich, von allen Kolja genannt, ist Berufssoldat und leistet seinen Dienst beim Grenzschutz. Und hat alle Hände voll zu tun. Denn immer mehr illegale Migranten aus Asien und Afrika versuchen, die ukrainische Grenze zu passieren - auf der grünen Wiese, zu Fuß, über das Wasser oder im Lkw versteckt. Entdeckt werden nur wenige.
Als die beiden mich sehen, legt Mykola die Schleifmaschine zur Seite und tritt einen Schritt zurück. Kritischen Auges begutachtet er die Autotür. Offensichtlich zufrieden, wischt er den Schweiß von der Stirn und setzt sich auf die wackelige Bank, die im Hof steht. Er nimmt einen Schluck Wasser aus der Plastikflasche und zündet eine Marlboro an.
Nemyriw ist ein unwirtlicher Ort an diesem Wintertag. Das Leben scheint stillzustehen. Seit die Chemiefabrik im benachbarten Nowojaworiwsk dichtgemacht hat, haben rund 15.000 Beschäftige in der Region ihren Job verloren.
Von der einstigen Schwefelproduktion - hier wurde rund die Hälfte des gesamten sowjetischen Schwefels produziert - sind nur die tote Landschaft und der Schwefelgeruch geblieben. Auch die Kuranstalt in Nemyriw wirkt mehr tot als lebendig, nennenswerte andere Arbeitgeber gibt es in der Nähe nicht. So bleibt den Menschen nur der Kleinhandel übrig - legal, halblegal und illegal. Das Geschäft mit dem Menschenschmuggel gehört auch dazu.
"Vor kurzem haben wir in der Nähe vom Grenzübergang Rawa Ruska acht Pakistaner und einen Georgier erwischt. Sie waren mit einem ukrainischen Führer unterwegs. Für eine erfolgreiche Schleusung über die Grenze verlangte der Mann 200 US-Dollar pro Kopf", erzählt Kolja. "Die Sache ist dumm gelaufen. Der Führer kannte die Gegend nicht, und die Gruppe hat sich in den Wäldern verirrt."
Auf dem runden Gesicht von Mykola breitet sich ein Lächeln aus. Er nimmt den letzten Zug aus seiner Zigarette, trinkt einen Schluck Wasser und macht sich wieder an die Arbeit.
Via Transkarpatien
Nicht alle Schleuser sind so ungeschickt. Die meisten Schleusungen laufen über Transkarpatien im Westen der Ukraine, das an die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Polen grenzt. Noch vor ein paar Jahren konnte man in den kleinen Grenzdörfern durchaus einem Afrikaner oder Asiaten begegnen. "Die gingen ganz offen die Hauptstraße zum Lebensmittelladen runter", erinnert sich der Uschgoroder Journalist Olexandr Popowytsch. Die Presse schlug Alarm, das Geschäft florierte weiter. Zu viele verdienten daran: die Schleuser, die Einwohner, die den Illegalen Essen und Quartier boten, und die Behörden, die beide Augen zudrückten. Heute ist es etwas ruhiger geworden. "Trotzdem stößt man in entlegenen Ecken immer noch auf Migranten", meint Popowytsch.
Nach Schätzungen von Experten erfolgt "der Umschlag am häufigsten über die slowakische Grenze". Dies belegen auch die Zahlen deutscher Behörden. Allein im ersten Vierteljahr des Jahres 2008 wurden bei stichprobenartigen Kontrollen an der deutsch-tschechischen Grenze 700 Illegale aufgegriffen, die über die Slowakei gekommen sein müssen - mehr als doppelt so viele wie im deutsch-polnischen Grenzgebiet. Zwar ist die ukrainisch-slowakische Grenze mit nur 96 Kilometer Länge verhältnismäßig kurz, aber drüben begünstigt ein relativ dünn besiedeltes Bergland die illegalen Grenzgänger. Doch der ausschlaggebende Grund für die Route über die Slowakei ist die relativ liberale Gesetzgebung in der Slowakei. Früher waren auch Ungarn und Rumänien beliebte Anlaufpunkte, doch mittlerweile kann ein Schleuser in Ungarn bis zu fünfzehn Jahre hinter Gitter kommen, wenn er erwischt wird.
Das Schleusernetz
Sascha spricht nicht gerne über die Vergangenheit. Vor Jahren hatte der passionierte Segler als Lastwagenfahrer eine Gruppe Illegaler mit an Bord geladen. Aus Gefälligkeit sozusagen. Und weil er Geld verdienen wollte. An der ungarischen Grenze wurden sie erwischt. Sascha musste für zwei Jahre hinter Gitter. Nun will er nichts mehr von dem Geschäft hören.
"Alles ist straff organisiert", berichtet er bei unserem Treffen in einem Kiewer Café. "In Kiew und anderen Großstädten gibt es Wohnungen, die als Umschlagplatz oder Zwischenlager dienen. Und es gibt lang bewährte Schleuserkanäle.
In den Grenzregionen gewähren die Einheimischen den Illegalen Logis. In Gruppen von zehn bis zwanzig Personen werden die Migranten in einer winzigen Kammer, im Keller oder gar in Kartons in einer Garage zusammengepfercht. Für diese Unterkunft sind bis zu zehn Dollar pro Nacht und Person fällig", weiß Sascha. Die Gesamtkosten für die Reise und den illegalen Aufenthalt in der Ukraine inklusive Grenzübertritt schätzt der ehemalige Hobbyschlepper auf 5.000 US-Dollar pro Person, Experten gehen eher von 7.000 Dollar aus. Die Route für Migranten aus Asien führt meist über Russland, sie werden dann über die russisch-ukrainische Grenze eingeschleust. "Das ist kein großes Problem", meint Sascha, "die Grenze zu Russland ist wie ein Sieb."
Schlechte Ausrüstung
Die Ukraine hat die Kontrollen verschärft, seit sie im Juni 2007 mit der Europäischen Union das Abkommen über die Rückführung illegaler Migranten unterzeichnet hat. "Im Jahr 2007 wurden an der Westgrenze mehr als 3.500 Personen festgenommen", erzählt nicht ohne Stolz Andrij Kutscherow vom Pressedienst des Grenzschutzes in Kiew. "Die meisten illegalen Migranten stammen aus Pakistan, Bangladesch und Indien. In den ersten neun Monaten des Jahres 2008 waren es über 2.300 Männer und Frauen überwiegend asiatischer Herkunft."
Im Mai wurden drei ausgehungerte Sri Lanker und ein Tschetschene an der Grenze zu Polen festgenommen. Ein anderes Mal wurden fünf Sri Lanker schon auf polnischer Seite im Gebüsch entdeckt. Die ukrainischen Behörden gehen davon aus, dass zwei von drei Illegalen entweder in der Ukraine oder kurz nach dem Grenzübergang gefasst werden. Für diese optimistische Einschätzung hat Fähnrich Mykola nur ein Lächeln übrig. "Nur jeder Fünfte, maximal jeder Vierte wird festgenommen", ist er überzeugt. "Vor wenigen Wochen haben wir einmal drei Hosen und das andere Mal zwei Spuren am Flussufer entdeckt. Beide Fälle haben wir den Polen gemeldet, bisher war die Suche erfolglos."
Im Jargon der Grenzsoldaten wird ein solcher Fall "Nelikwid" genannt - ein ungelöster, ungeklärter Fall. Es gibt reichlich davon. Denn der Grenzschutz ist schlecht ausgerüstet und unterbezahlt. Zur Standardausrüstung gehören ein Nachtsichtgerät, dazu eine Pistole, ein Schlagstock, Handschellen und ein Tränengasbehälter. Infrarotsuchgeräte gibt es nicht. Wegen schlechter Bezahlung quittieren viele Berufssoldaten ihren Dienst. Ein Unteroffizier bekommt im Durchschnitt rund 1.200 Hrywnja, etwa 120 Euro. Für eine Person würde das Geld knapp reichen, eine Familie kann man davon nicht ernähren. Für Festnahmen gibt es keine Belohnung, nur eine Medaille. Mykola hat so eine, er hat vor Jahren in den Bergen eine Gruppe Afghanen gefasst. Das Gute an dem Job: Im Grenzschutz wird jedes Jahr für zwei gezählt. So kann man nach zwölfeinhalb Jahren Dienst mit knapp über dreißig in Pension gehen. Ein sicheres Einkommen in einer Gegend, wo es keine Arbeit gibt.
Kleiner Grenzverkehr
Als ich Nemyriw verlasse, ist die Autotür zum Lackieren bereit. In einigen Tagen wird der uralte Ford Scorpio einsatzbereit sein. Dann rattert Koljas Kumpel Stepan wieder nach Polen, wo er Waschmittel und alles für Heizinstallationen einkaufen wird. Er beliefert kleine Geschäfte in der Gegend von Nemyriw, ansonsten vertickt er die Ware auf dem Markt. Das übliche Geschäft eines Kleinhändlers. Das Schengener Visum hat er mittlerweile über eine Vermittlungsagentur für 200 Dollar gekauft. Offiziell kostet es 35 Euro. Das Leben wird halt teurer. Die neue Schengen-Regelung ist zu einem Inflationsfaktor geworden.
Das Café ist nach wie vor leer, die Tankstelle sieht genauso verlassen aus. Die Tür zum kleinen Dorfgeschäft steht diesmal offen. Wenige Minuten später bin ich wieder am Kontrollposten. Diesmal hat der Grenzbeamte ausnahmsweise zu tun. Er kontrolliert einen Lkw, der sich aus irgendeinem Grund hierher verirrt hat. Für mich hat er kaum einen Blick übrig. Im Rückspiegel sehe ich noch, wie eine leichte Windböe seine Zeitung vom Klappstuhl reißt und sie langsam auf den Straßenrand segelt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pro und Contra Letzte Generation
Ist die Letzte Generation gescheitert?
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Die Linke im Bundestagswahlkampf
Kleine Partei, großer Anspruch
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?