piwik no script img

UkraineWahlen mit kleinen Schönheitsfehlern

In Kiew scheinen die Wahlen einigermassen korrekt abzulaufen. Oppositionführerin Timoschenko versucht mit einem Stoßgebet ihre Anhänger zu mobilisieren.

Beten für den Wahlsieg: Julia Timoschenko. Bild: dpa

KIEW taz In der Schule Nummer 88, im Viertel Perscherskij unweit des Zentrums der ukrainischen Hauptstadt Kiew, fixiert ein halbes Dutzend Wahlbeobachter aufmerksam die Wahlkabinen und die Mitglieder der örtlichen Wahlkommission, die die Stimmzettel ausgeben. "Das ist eine Unverschämtheit", ereifert sich ein Mann. "Ich stehe im Wählerverzeichnis, habe meine Wahlbenachberichtigung dabei und meinen Reisepaß. Und jetzt lassen Sie mich nicht abstimmen."

Der Leiter der Wahlkommission hält dem aufgebrachten Wähler das Wahlgesetz hin. Der Reisepass reiche nicht aus, weil darin nicht der Wohnort vermerkt sei. "Holen Sie Ihren Inlandspass, Sie haben bis 22 Uhr Zeit!" - "Mir ist die Lust vergangen", antwortet der Mann und geht. Ein Beobachter von der Partei BJUT der Oppositionspolitikerin Julia Timoschenko hat die Szene verfolgt. Im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen 2004 laufe bisher alles zivilisiert ab. Alle seien bemüht, sich korrekt zu verhalten.

Die letzten Parlemtswahlen in der Ukraine sind gerade einmal anderthalb Jahre her. Daraus ging der russophile Politiker Wiktor Janukowitsch mit seiner "Partei der Regionen" als stärkste Kraft hervor. Zwei Monate zuvor war eine Verfassungsreform in Kraft getreten, die die Machtverteilung zwischen Regierung und Staatspräsident zu Lasten des letzteren neu regelt. Janukowitsch gelang es, mit den Kommunisten und Sozialisten eine Koalition zu bilden und die "orangenen Kräfte", die Partei "Unsere Ukraine" von Staatspräsident Wiktor Juschtschenko und BJUT, in die Opposition zu verbannen. Was folgte war ein monatelanger Machtkampf zwischen Regierung und Staatspräsident. Als Janukowitsch begann, Abgeordnete der Opposition abzuwerben, um sich so eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit zu beschaffen, löste Juschtschenko im vergangenen Frühjahr das Parlament auf und setzte Neuwahlen an. Letzten Umfragen zufolge liegt die Partei der Regionen (29 bis 33 Prozent) fast gleich auf mit BJUT (19 bis 23 Prozent) und Unsere Ukraine (10 bis 13 Prozent).

Im zweiten Wahllokal der Schule Nr. 88 hat der Vertreter der Kommunisten Partei in der Wahlkommission den ersten Gesetzesverstoß ausgemacht. Dabei ghet es um einen neuen, umstrittenen Passus im Wahlgesetzes, der dem Verfassungsricht zur Prüfung vorliegt. Dieser sieht vor, dass Ukrainer, die zweitweilig im Ausland arbeiten und nicht spätestens bis drei Tage vor der Wahl wieder nach Hause zurückgekehrt sind, aus den Wählerverzeichnissen gestrichen werden. "Gerade war ein Mann hier, dessen Name gestrichen wurde. Er war in Russland, ist aber schon am 12. September wieder eingereist. Wir haben ihm empfohlen, gleich zum Gericht zu gehen", sagt der kommunistische Kommissionsvertreter.

Am Freitag abend hatten beide Lager noch einmal mit Großveranstaltungen um die Gunst der Wähler geworben. Während die Partei der Regionen mit einem gigantischen Popkonzert auf dem Platz der Unabhängigkeit (Maidan), dem Symbol der "Orangenen Revolution", ihre Anhänger auf Linie zu bringen versuchte, betete Julia Timoschenko auf dem Sophienplatz mit ihren Unterstützern das "Vater unser". Am Samstag abend rief Staatschef Wiktor Juschtschenko in einer Fernsehanprache die Ukrainer dazu auf, ihre Stimme abzugeben. "Entweder Sie stimmen für Veränderungen in Ihrem Leben oder Ihre Stimme wird die Vergangenheit stützen und diejenigen, die uns auseinanderbringen wollen", sagte Juschtschenko, vermied es dabei aber, anders als in den Tagen davor, direkt Wahlwerbung für seine Partei "Unsere Ukraine" zu machen.

Für den Kiewer Politologen Alexander Litvinenko ist Juschtschenko derzeit eine der größten Schwachstellen im System. "Der entscheidet nur, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht und seine Machtposition gefährdet ist", sagt er. Sollte die Partei der Regionen die Wahlen gewinnen, wäre das genau wieder der Fall.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!