■ Ukraine: Kutschma hat bei den Wahlen die besten Aussichten: Ein großes kleineres Übel
Der Grundsatz „Wer die Macht innehat, sitzt auch im Wahlkampf am längeren Hebel“ hat sich auch in der Ukraine wieder einmal bestätigt. So gesehen ist es nicht verwunderlich, dass der amtierende Präsident Leonid Kutschma sich seinen Landsleuten gestern zwar noch nicht als strahlender Wahlsieger präsentieren konnte, jedoch nach dem ersten Durchgang die Nase vorn hat. Es ist eben recht komfortabel, qua Amtsbonus einen hörigen Staatsapparat und eine finanzkräftige Oligarchie im Rücken und die wichtigsten Massenmedien in der Hand zu haben. Besonders dann, wenn man, wie Kutschma, nichts dabei findet, diese Machtmittel auch in undemokratischer Weise gegen seine Widersacher einzusetzen.
Profitiert hat Kutschma aber auch von der Zerstrittenheit seiner Gegner. Weder das linke noch das rechte Lager war in der Lage, sich auf eine Frontfigur zu einigen. Auch eine Koalition der Mitte platzte wenige Tage vor den Wahlen. Dabei hätte es Ansatzpunkte für Kritik und zur eigenen Profilierung genug gegeben. Schießlich lebt ein Großteil der Ukrainer heute bei steigender Arbeitslosigkeit, sinkendem Bruttoinlandsprodukt und einem stetigen Verfall der heimischen Währung schlechter als zu den ohnehin schon mageren Sowjetzeiten.
Zwar hat es Kutschma jetzt in der Stichwahl mit dem Kommunisten Petr Simonenko mit einem ernst zu nehmenden Mitstreiter um das höchste Staatsamt zu tun. Zumal Simonenko, der seine Wählerhochburgen in der russischsprachigen Ostukraine hat, viele Stimmen der anderen gescheiterten linken Kandidaten für sich verbuchen dürfte. Dennoch wird Kutschma am Ende die besseren Karten haben, wobei er besonders mit der roten Farbe pokern wird.
Denn wie seinerzeit in Russland, wo die Wähler zähneknirschend Boris Jelzin vor Kommunistenchef Gennadi Sjuganow den Vorzug gaben, lässt sich auch in der Ukraine die Angst vor dem roten Schreckgespenst in Stimmen ummünzen. Das gilt für die Aussicht auf ein verstärktes Eingreifen des Staates in die Wirtschaft und einen Stopp der Reformen. Das gilt aber auch für eine engere Zusammenarbeit mit Russland und Weißrussland. Dieses Szenario erscheint, allen slawophilen Anwandlungen so mancher Nostalgiker zum Trotz, nur den wenigsten erstrebenswert.
Sollte der neue Präsident wirklich wieder Leonid Kutschma heißen, darf er sich das Verdienst ans Rervers heften, die beste aller schlechten Alternativen gewesen zu sein. Eine Perspektive für die Ukraine ist das jedoch noch lange nicht. Barbara Oertel
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