piwik no script img

Überstundenkonto lohnt sichAuszeit mit Gehalt

Immer mehr Beschäftigte nutzen ihre Überstunden für Auszeiten, so eine Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung. Jetzt soll ein Gesetz die Langzeitkonten besser schützen.

Auszeit? Muss ja nicht immer Guatemala oder Jakobsweg sein. Bild: dpa

BERLIN taz Endlich Zeit. Ein ganzes Jahr lang gab die Angestellte eines Computerherstellers ihren Job als Controllerin auf und tingelte als Rucksacktouristin durch Südamerika, von Guatemala bis Kap Hoorn. Das Gehalt floss während der Auszeit weiter. Möglich machte es ein Arbeitszeitkonto, auf dem die Angestellte vorher knapp 20 Jahre lang ihre Überstunden angespart hatte. Ähnlich ist es beim Ulmer Metallwerk Wieland: Immer wieder haben sich Mitarbeiter länger freistellen lassen, um etwa beim Hausbau mitanzupacken oder den Jakobsweg zu wandern.

9 bis 17 Uhr, fünf Tage die Woche - diese Rechnung gilt in vielen Betrieben nicht mehr. Die Zahl der Arbeitszeitkonten, auf denen Mehrarbeit gesammelt und später durch Freizeit ausgeglichen wird, hat in den vergangenen zehn Jahren rasant zugenommen. In 72 Prozent aller Betriebe mit Betriebsrat gibt es bereits Kontenmodelle. Das zeigt eine aktuelle Umfrage der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.

Vor allem Kurzzeitkonten, die binnen eines Jahres ausgeglichen werden, dominieren: 69 Prozent der Betriebe mit Betriebsrat nutzen dieses Instrument. Langzeitkonten sind dagegen noch die Ausnahme: Sie werden bei knapp 10 Prozent der größeren Betriebe geführt. Die Tendenz ist allerdings klar: Starre Arbeitszeiten brechen auf.

Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) will die Kontenmodelle mit dem so genannten Flexi-II-Gesetz, das der Bundesrat am Freitag billigte, noch attraktiver machen: "Es muss die Möglichkeit geben, den Akku neu aufzuladen und sich weiterzubilden", sagte er kürzlich im Bundestag und sparte nicht mit großen Worten: Das Vorhaben sei vielleicht eines der wichtigsten Gesetze derzeit.

Das Land NRW hat 2002 mit dem Düsseldorfer Zeitbüro eigens eine Beratungsstelle zur flexiblen Arbeitszeitgestaltung eingerichtet. "Kontenmodelle sind vor allem im Dienstleistungssektor beliebt", sagt Marc Danlowski, Berater im Zeitbüro. Langzeitkonten sind aus seiner Sicht aus mehreren Gründen attraktiv: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf spielt eine immer größere Rolle - Konten bieten Beschäftigten die Möglichkeit, kürzer zu treten, wenn Kinder zu erziehen oder Angehörige zu pflegen sind. Auch begehrte Fachkräfte ließen sich mit der Aussicht auf eine Auszeit locken. Der weitaus größte Teil der längerfristigen Konten dient allerdings dazu, in jungen Jahren mehr zu arbeiten, um dafür im Alter auf Teilzeit umstellen oder früher in den Ruhestand gehen zu können. Nach einer Umfrage der Unternehmensberatung Towers Perrin haben 74 Prozent der Konten diesen Zweck. Der bezahlte Urlaub zwischendurch lohnt sich oft nur für Beschäftigte mit hohen Stundenlöhnen.

Für den Arbeitszeitexperten Hartmut Seifert von der Hans-Böckler-Stiftung lautet die entscheidende Frage bei allen Konten: Wer gewinnt an Entscheidungsmacht über die Zeit - der Beschäftigte oder der Arbeitgeber? "Früher waren die Beschäftigten in dem goldenen Käfig ihrer festen Arbeitszeiten, jetzt sind sie entlassen in eine riskante Freiheit", sagt Seifert. Das Zeitansparen erfolge in vielen Fällen auf Anordnung der Betriebe, um Produktionsschwankungen auszugleichen. Daher seien die Beschäftigten auch nicht immer frei in der Wahl, wann sie Zeit vom Konto entnehmen. Für Martina Perreng, Referentin für Arbeitsrecht beim Deutschen Gewerkschaftsbund, gilt die Faustregel: Je kurzfristiger das Konto angelegt ist, desto eher führt es dazu, dass sich das Privatleben der Auftragslage im Betrieb unterwirft. Je langfristiger, desto mehr Zeitsouveränität gewinnt der Arbeitnehmer.

Das Flexi-II-Gesetz soll vor allem Langzeitkonten besser absichern. Sie sollen demnächst in bestimmten Fällen auch weitergeführt werden können, wenn man den Arbeitgeber wechselt. Vor allem aber sollen sie durch einen verbesserten Insolvenzschutz attraktiver gemacht werden. Laut Böckler-Stiftung müssen derzeit noch in rund einem Viertel der Betriebe die Beschäftigte fürchten, dass ihr angespartes Langzeit-Guthaben bei einer Unternehmenspleite verlorengeht.

Was das heißt, mussten vor rund zwei Jahren einige Mitarbeiter des Handyherstellers BenQ erfahren: Sie hatten mehrere Jahre zu geringeren Bezügen gearbeitet, um im Alter bei vollem Gehalt auf Teilzeit umzustellen - dann kam die Pleite. Millionen Euro, die Mitarbeiter für ihre Altersteilzeit zurückgestellt haben, waren mit einem Schlag weg.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!