Übergriffe im Metaverse: „Zieh doch einfach die Brille ab“

In mehreren Berichten erzählen Betroffene von sexualisierter Gewalt im Metaverse. Doch die aktuelle Rechtslage schützt Betroffene kaum.

Virtual-Reality-Headset auf einem Plastikkopf mit strukturiertem menschlichem Gesicht, das die Struktur einer grünen Leiterplatine hat

Dunkles Metaverse: Headset zum Eintritt in die virtuelle Realität Foto: Cigdem Simsek/picture alliance

Eine bittere Wahrheit: Wo Menschen zusammenkommen, findet sexualisierte Gewalt statt. Doch wie geht eine Gesellschaft damit um, wenn nicht Körper aus Fleisch und Blut angegriffen werden, sondern digitale Avatare in virtuellen Räumen?

In England ermittelt aktuell die Polizei erstmals zu solch einem virtuellen Übergriff. So berichtete es Anfang 2024 zuerst die Boulevardzeitung Daily Mail. Eine Gruppe erwachsener Männer soll im Metaverse mit ihren Avataren einen anderen Avatar vergewaltigt haben. Dieser habe einem Mädchen gehört, das jünger als 16 Jahre ist. Der Polizei zufolge zeige das Mädchen ähnliche Reaktionen wie auf eine Vergewaltigung in der realen Welt.

Das Metaverse ist eine digitale, dreidimensionale Welt, in der die Nut­zer*in­nen sich einen eigenen Avatar erstellen und sich frei bewegen können. Es gibt Bars, Comedyclubs oder Basketballplätze. Mit einer speziellen Brille spannen sich Nut­ze­r*in­nen den Bildschirm direkt vor die Augen, sodass sie sich in alle Richtungen in der digitalen Welt umschauen können. Sensoren verfolgen die Bewegungen und übertragen sie. Möglichst immersiv soll die Erfahrung sein – die Nut­ze­r*in­nen tauchen in die digitale Welt ein, als wäre sie real.

Die mutmaßliche virtuelle Vergewaltigung des englischen Mädchens ist kein Einzelfall. Die Vogue berichtet von Catherine Allen, die im Metaverse ein siebenjähriges Mädchen traf, dessen Avatar erwachsen aussah, weil alle Avatare wie Erwachsene aussehen. Nach wenigen Minuten habe sich eine Gruppe Männer um sie gestellt und gewitzelt, sie vergewaltigen zu wollen.

„Sehr real“

Die New York Times berichtet über Chanelle Siggens Avatar, der von einem Mann betatscht wurde, der so tat, als ejakuliere er auf sie. In der englischen Times schreibt der Journalist Hugo Rifkind, ein Mann habe seinem Avatar in den Schritt gefasst. Dem Guardian berichtet die Psychotherapeutin und VR-Expertin Nina Jane Patel von drei bis vier männlich wirkenden Avataren, die sie umringten und verbal sowie sexuell belästigten – innerhalb der ersten Minute, nachdem sie die Plattform betrat. „Körperlich und psychisch fühlt es sich sehr real an“, sagt Patel.

Doch viele halten diese Vorfälle für harmlos. Die Kommentarspalten in den sozialen Medien sind voll von Kommentaren wie: „Zieh doch einfach das Headset aus“, oder: „Wenn ich in einem Computerspiel getötet werde, ist das doch auch kein Mord.“ Den Betroffenen wird die Verantwortung für den Übergriff zugeschoben – ein victim blaming ähnlich dem altbekannten Vorwurf des zu kurzen Rocks. Patel sagt dazu, sie sei wie eingefroren und nicht mehr in der Lage gewesen zu reagieren.

„Warum sollte ein Medium, das als ein Ziel versucht, zentrale Aspekte des Erlebens einer realen Umgebung zu simulieren, das Wesen und Verhalten der Menschen in diesem Medium ändern?“, fragt Marc Latoschik. Wenn man versuche, ein möglichst realistisches Abbild der realen Welt zu schaffen, verursache das auch ähnliche Probleme wie in der Realität. Latoschik ist Lehrstuhlinhaber für Mensch-Computer-Interaktionen an der Universität Würzburg. Sein Bücherregal ist gefüllt mit Science-Fiction-Klassikern. Der Name Metaverse stamme nicht etwa vom Meta-Chef Mark Zuckerberg, sondern Neal Stephenson habe ihn 1992 im Science-Fiction-Roman „Snow Crash“ geprägt.

„Es ist ein Medium von Chancen und Risiken, man darf nicht blauäugig sein, es aber auch nicht verteufeln“, sagt Latoschik. Er sieht besonders im Therapie- und Trainingsbereich Chancen, die Technologie einzusetzen. So zeigte eine Studie der Oxford-Universität 2018, dass mithilfe von VR-Simulationen Höhenangst behandelt werden kann. Latoschik sieht auch Potenzial in Partizipationsformaten für den ländlichen Raum. Im Gegensatz zu ermüdenden Videokonferenzen, ermögliche VR nonverbale Kommunikation, und man müsse nicht ständig ins eigene Gesicht sehen.

Vergewaltigungstaverne

Latoschik beschäftigt sich auch mit den Risiken von VR. „Dark sides of VR“, nennt er das. So könne etwa missbraucht werden, dass VR starke Emotionen transportiere. „Je immersiver die Erfahrung wird, umso stärker ist die emotionale Reaktion auf Erlebtes“, sagt Latoschik. „Je mehr ich Realität in VR-Räume verlagere, umso größer wird das Risiko, ähnlichen Gefahren wie in der Realität ausgesetzt zu werden, die Erfahrungen werden tendenziell immer realistischer und damit immer lebensnaher.“

Auch Kerstin Demuth vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (BFF) überraschen die Berichte zu den Übergriffen wenig. „Jede Technologie wird irgendwann für Gewalt genutzt“, sagt sie. Das kenne man etwa schon aus Onlinespielen wie „World of Warcraft“, wo es eine sogenannte Rape Tavern (Vergewaltigungstaverne) gab.

Die immersive Erfahrung von VR könne zwar dazu beitragen, dass sich das Erlebte näher anfühlt. Doch auch nicht einvernehmlich empfangene Nacktfotos etwa können sich ähnlich auf die Psyche von Menschen auswirken wie körperliche sexualisierte Gewalt. „Was wir jetzt im Metaverse sehen, ist eine Fortsetzung dessen, was wir in der Tendenz im digitalen Raum sowieso schon gesehen haben“, sagt Demuth.

Besonders der ehemalige Facebook-Konzern setzt auf VR und hat sich deswegen sogar in Meta umbenannt. Eine Meta-Sprecherin schreibt der taz zu den Übergriffen im Metaverse: „Diese Art von Verhalten hat auf unserer Plattform keinen Platz.“ Man wolle, dass alle Nut­ze­r*in­nen gute Erfahrungen machen und leicht Werkzeuge finden, die ihnen helfen, solche Situationen zu verhindern. Meta ermittele und ergreife Maßnahmen. Die Sprecherin verweist zudem auf eine standardmäßig aktivierte Barriere, die unbekannte Avatare auf Abstand hält. Nut­ze­r*in­nen können die Barriere ausschalten, wenn sie dem Gegenüber vertrauen. In der analogen Welt werden die meisten Übergriffe von Menschen aus dem näheren Umfeld begangen.

Strafrechtliche Verfolgung schwer umsetzbar in Deutschland

Eine strafrechtliche Verfolgung der virtuellen Übergriffe scheint derzeit in Deutschland schwer umsetzbar. Bisher ist eine Verfolgung nur in speziellen Fällen über das Pornografiestrafrecht möglich oder dann, wenn Kinder oder Kindern nachempfundene Avatare betroffen sind. Das bestätigten das Bundeskriminalamt (BKA) und auch das Justizministerium (BMJ) auf taz-Anfragen: „Eine virtuelle Vergewaltigung eines Avatars ist nicht strafbewehrt“, schreibt eine BKA-Sprecherin. Die Gesetze zu Sexualdelikten knüpften an die körperliche Unversehrtheit der Betroffenen an. Damit ist nur der analoge Körper geschützt, nicht der virtuelle.

Das BMJ sieht keinen Änderungsbedarf. „Unser Strafrecht ist bereits heute gut aufgestellt, um die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen effektiv zu schützen und jegliche Form der Gewalt gegen Frauen effektiv zu sanktionieren, auch im digitalen Bereich“, schreibt eine Ministeriumssprecherin. Aus den Antworten von BKA und BMJ geht aber hervor: Erwachsene sind grundsätzlich nicht geschützt. Auch der Deutsche Juristinnenbund stellte im Juni 2023 zu sexualisierter Gewalt durch Bilder fest, es bestehe ein „lückenhafter und unsystematischer strafrechtlicher Schutz Erwachsener“.

Dass das Strafrecht gut aufgestellt ist, um jegliche Form der digitalen Gewalt zu bekämpfen, wie das BMJ behauptet, ist also zumindest umstritten. Wie kann Betroffenen dann geholfen werden? Kerstin Demuth vom BFF und Forscher Marc Latoschik haben Ideen.

Plattformen brauchen Präventionsmaßnahmen

Latoschik wünscht sich eine gemeinwohlorientierte VR-Plattform, die den Schutz der Nut­ze­r*in­nen mitdenkt. Er kritisiert, dass die großen Plattformen den Profitinteressen von Konzernen unterworfen sind. „Es gibt kaum Alternativen für Menschen, die diese Räume nutzen wollen, das versäumt die Politik“, sagt Latoschik. Auch eine Pflicht, in bestimmten Räumen Klarnamen zu benutzen, befürwortet er.

Kerstin Demuth setzt vor allem auf gesellschaftspolitische Maßnahmen. „Wir müssen schon in jungen Jahren über Sexualität, Grenzen und Konsens aufklären“, sagt die Expertin für digitale Gewalt. Zudem gelte es, das Machtgefälle auszugleichen, das durch Unterschiede in der IT- und Medienkompetenz entstehe.

Demuth fordert zudem, die Plattformen zur Verantwortung zu ziehen: Sie dürften nicht warten, bis Übergriffe passieren, sondern müssten Präventionsmaßnahmen, Nothilfe und Akutmaßnahmen einbauen. Demuth sagt: „Sobald ich so ein Produkt entwickele, muss ich mich fragen: Wie kann ein Stalker dieses Produkt nutzen? Was kann ich ändern, um das Risiko zu verringern, dass mein Produkt für geschlechtsspezifische Gewalt verwendet wird?“ Sie rät, sich an Frauennotrufe oder Beratungsstellen zu wenden. Man dürfe nichts kleinreden, nur weil der Übergriff in virtuellen Räumen passiere. Von Nichtbetroffenen fordert sie Zivilcourage – auch in der virtuellen Realität.

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