Überforderter Winterdienst: Im Eis gefangen
Vielerorts werden die Gehwege nicht geräumt - für Behinderte ein echtes Problem.
Seit über einem Monat ist der Winterdienst der Berliner Stadtreinigung (BSR) rund um die Uhr im Einsatz. Und dennoch sind vor allem viele Bürgersteige kaum geräumt und teilweise spiegelglatt. Täglich kommen allein 60 bis 70 Patienten wegen glättebedingter Stürze ins Unfallkrankenhaus Berlin in Marzahn. In der Charité habe man das Zählen bereits aufgegeben, so der Unfallchirurg Tobias Lindner. Und mancherorts ragt noch immer der Silvestermüll aus dem stetig kalbenden Gletscher, der Gehwege und Grünflächen überzieht.
"Die Straßensituation ist so dramatisch, dass ältere Mitbürger seit Wochen das Haus nicht mehr verlassen können", kritisiert Jasenka Villbrandt, die sozialpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus. So entstünden ernstzunehmende Versorgungsprobleme für die Betroffenen.
Evelyn Borchert hat es besonders hart getroffen. Sie ist Rollstuhlfahrerin und deshalb völlig aufgeschmissen auf den eisbedeckten Gehwegen. "Ich habe wirklich danach gesucht, aber für Rollstühle gibt es weder Winterreifen noch Schneeketten", berichtet die 63-jährige Spandauerin. Deshalb kommt sie seit Wochen kaum mehr aus dem Haus. Sie hält das für "eine absolute Schweinerei!"
Die Wohnungsbaugesellschaft, der Borchert ihre Miete zahlt, hat einen externen Dienstleister beauftragt, Schnee und Eis zu bekämpfen. Zufrieden ist Borchert damit nicht. Villbrandt kennt das Problem. "Der Winterdienst wurde oft an private Dienstleister ausgelagert", sagt sie. "Da wird dann meist der billigste genommen - mit entsprechenden Ergebnissen."
Fast 1.000 Bußgeldbescheide wegen nicht geräumter Gehwege seien derzeit in Arbeit, berichtete Innensenator Ehrhardt Körting (SPD) vergangene Woche im Abgeordnetenhaus. Mehr als 2.500 Verstöße gegen die Räumpflicht seien festgestellt worden.
Wenn Evelyn Borchert doch einmal jemand durch die "Mondlandschaft" hilft, zu der ihr Wohnumfeld an der Ruhlebener Straße in Spandau für sie geworden ist, endet der Weg spätestens an der Bushaltestelle. "Der Bus kann die Rampe nicht mehr runterlassen, wegen den Schneewehen am Rand", sagt sie.
Sabine Thümler von der BSR sucht nach einer Rechtfertigung: "Wir können den Schnee ja schlecht zurückschicken, irgendwo muss er ja hin." Zudem seien im speziellen Fall der Bushaltestellen oft Subunternehmer zuständig. "Mit, wie wir zugeben müssen, nicht immer optimalem Ergebnis. Die sind bei dem Wetter einfach überfordert", sagt Thümler.
Wenn der Winterdienst nicht ordentlich ausgeführt wird, treten die Ordnungsämter auf den Plan. Die Strafe für unzureichende Bekämpfung von Schnee und Eis beträgt "mindestens 100 Euro, in Härtefällen bis zu 10.000", erklärt der Leiter des Ordnungsamtes Friedrichshain-Kreuzberg, Joachim Wenz. Schnee und Eis sind damit aber noch nicht beseitigt. Aber nur wenn in dem Bereich eine Gefährdung vorliege, etwa weil es sehr glatt ist, "dann beauftragen wir einen Winterdienst und stellen das den Verantwortlichen in Rechnung", so der Ordnungsamtsleiter.
"Das sollte viel öfter gemacht werden", kommentiert Grünen-Politikerin Villbrandt die unbürokratische Hilfe. Denn es helfe sicher zu einem Umdenken, das Nichträumen mit Strafen zu belegen. "Aber die primäre Aufgabe sollte es doch sein, das Eis in den Griff zu bekommen." Die Rollstuhlfahrerin Borchert hält das für selbstverständlich: "Das ist ja nicht der erste Winter in Berlin! Da könnte man sich doch langsam mal drauf einstellen."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“