Überflüssige Behandlung: Der Trend zur Spange
Die HKK stellt die neue Studie zu kieferorthopädischen Behandlungen von Kindern und Jugendlichen vor: Nicht immer ist eine Zahnspange medizinisch notwendig.
Einem bösen Verdacht gibt die Handelskrankenkasse (HKK) in Bremen mit einer heute veröffentlichten Studie Nahrung: Zahnspangen seien bei Kindern und Jugendlichen zwar im „Trend“, aber nicht immer medizinisch notwendig.
Das Bremer Institut für Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung (Biag) hatte im Auftrag der HKK 435 gesetzlich versicherte Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern zu Motiven, Umständen, Folgen und Ergebnissen ihrer 2010 abgeschlossenen kieferorthopädischen Behandlung befragt. Von ihnen sagten 42,8 Prozent, sie hätten „eigentlich keine Beschwerden“ gehabt, 30,1 Prozent wollten sogar „einfach besser aussehen“.
Nur 10 Prozent der Befragten nannten funktionelle Störungen oder andere medizinische Indikatoren als Grund für ihre Zahnspange. Die Vorsitzende des Landesverbandes Bremen des Berufsverbands Deutscher Kieferorthopäden (BDK), Christina Schlemme, zweifelt dennoch an, dass es eine Überversorgung gibt. Kieferorthopädische Behandlungen seien auch bei Nichtauftreten von Beschwerden aufgrund ihrer Vorsorgefunktion medizinisch gerechtfertigt, sagte sie der taz auf Nachfrage.
Hat ein Kind wegen seiner Gebissform Schwierigkeiten beim Sprechen, Beißen, Kauen oder Atmen, sollte kieferorthopädische Hilfe in Anspruch genommen werden.
Diese Behandlung muss von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden.
Um den Spangenboom einzudämmen, hatten gesetzliche Kassen ihre Versicherten in die Irre geführt, indem sie wahrheitswidrig behaupteten, Kieferorthopäden dürften neue Kassen-Behandlungen nur beginnen, wenn sie über eine kassenärztliche Dentisten-Zulassung verfügen würden. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen verbot ihnen das (Az. L 3 KA 109/05 ER).
Grundsätzlich sollte eine Fehlstellung des Kiefers möglichst früh behandelt werden. Hat ein Kind nach Verlust der Milchzähne gesundheitliche Beschwerden, sollte kieferorthopädische Hilfe in Anspruch genommen werden. Die muss dann auch von den gesetzlichen Kassen gezahlt werden.
Das tun die allerdings auch nicht immer gern: So musste ihnen das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen noch im Herbst 2005 verbieten, die Versicherten falsch über ihre Ansprüche zu beraten. Sie hatten sich vor Kostenübernahmen drücken wollen.
Umgekehrt ist aber auch die Behandlungsquote zweifelhaft: Sollte wirklich jeder zweite Jugendliche korrekturbedürftige Zahnfehlstellungen haben? Laut HKK-Studie willigten fast 90 Prozent der Eltern auf Anraten des Zahnarztes der Kinder in die Behandlung ein und nicht etwa, weil das Kind über Beschwerden geklagt hätte. Ein Grund dafür: Die Kieferorthopäden raten zur Prävention. „Der Trend im Gesundheitsbewusstsein richtet sich auf Prophylaxe aus“, so Schlemme. „Kieferorthopädie ist Prävention pur, denn gesunde Zähne bedeuten Lebensqualität.“ Es sei daher wichtig, die Eltern über Probleme, Methoden, Kosten, Folgeerscheinungen und Zusatzleistungen zu informieren: „Ein umfangreiches Infogespräch dauert bei mir rund 30 bis 45 Minuten.“ Damit scheint sie eine Ausnahme zu sein: Die befragten Eltern waren nicht alle mit den Beratungsleistungen zufrieden. Besonders bei der Auswahl des behandelnden Kieferorthopäden oder bei Aufklärung über die Kosten fühlten sie sich allein gelassen.
Zumal die privaten Zuzahlungen stellen ein echtes Kostenrisiko dar: Drei Viertel der Befragten nahmen die von den Ärzten empfohlenen Zusatzleistungen in Anspruch. Untersuchungsleiter Bernard Braun stellt den Nutzen dieser Zusatzleistungen infrage und bemängelt die fehlenden Studien darüber. Man bräuchte „wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse über Nutzen und Schaden solcher Behandlungen, um eine langfristige Qualitätssicherung zu gewährleisten“, erklärt er.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation