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Überall Skandale, keine Politik

Nach allen Umfragen wird die rot-grüne Regierung demnächst der Geschichte angehören. Der Clou: Niemanden regt das auf, weder im Guten noch im Schlechten. Ein Essay über eine politisch gelangweilte Republik

von BETTINA GAUS

Öffentliche Schwimmhallen müssen schließen, weil die Hauptstadt pleite ist. Wenigstens wird sie wieder ein Schloss bekommen. Die meisten deutschen Fußballfans wirkten während der Weltmeisterschaft recht sympathisch. Jedenfalls gebärdeten sie sich viel weniger nationalistisch als Sportsfreunde in Südkorea oder Großbritannien.

Tschechien soll endlich anerkennen, welches historische Unrecht den Deutschen angetan wurde. Antisemitisch gefärbte Äußerungen eines FDP-Politikers sind auf große Zustimmung gestoßen. Die Bahnhofsmission wird abgeschafft. Zum Christopher Street Day in Köln kamen in diesem Jahr mehr Zuschauer als zum Rosenmontagszug.

Was besagt all das für das politische Klima am Ende der ersten – und vielleicht letzten – Amtszeit einer rot-grünen Bundesregierung? Lässt es sich als liberal definieren? Oder reaktionär? Permissiv? Gleichgültig? Ist das seltsam uneinheitliche Bild lediglich ein Beleg dafür, dass der Einfluss der Politik auf die Gesellschaft erheblich geringer ist als zur Zeit von Willy Brandt und Franz Josef Strauß?

Ist mithin die Frage, ob der nächste Kanzler Gerhard Schröder oder Edmund Stoiber heißen wird, für die individualisierten Interessen der Mehrheit nur noch von untergeordneter Bedeutung – zumal der Handlungsspielraum der Politik auch im ökonomischen Bereich schrumpft?

Wen wählen all diese Leute im Fußballstadion und auf der Homoparade? Wählen sie überhaupt? Wahlkampfmanager sind um ihren Job nicht zu beneiden. Was man der von ihnen gesteuerten Veranstaltung anmerkt.

Dieser Wahlkampf findet sein Thema nicht. Merkwürdig unentschlossen dümpelt er vor sich hin. Überraschend schießt immer wieder für jeweils zwei, drei Tage ein skandalisiertes Nichts aus dem Boden, um danach ebendort wieder zu versinken. Katherina Reiche ist mit dem Vater ihrer Kinder nicht verheiratet und soll dennoch im „Kompetenzteam“ von Stoiber für Familienpolitik zuständig sein. Was für eine Nachricht! Oder etwa nicht? Allen publizistischen und klerikalen Aufgeregtheiten zum Trotz wird man den Eindruck nicht los, dass die Bevölkerung kollektiv die Achseln zuckt. Und sich weder beeindrucken noch erschrecken lässt.

Wenige Tage nach ihrer Ernennung fordert Frau Reiche in einer Fernsehtalkshow Neuregelungen, die von der Koalition gegen den Widerstand der Union bereits durchgesetzt worden sind. Das ist lustig, aber auch egal. Zumal ihr recht sein darf, was dem Kanzler und seinem Herausforderer billig ist. Die reden ebenfalls ziemlich wirr. Stoiber macht Schröder persönlich für die Krise der Telekom verantwortlich und wirft ihm unmittelbar danach vor, sich auf unzulässige Weise in die Unternehmenspolitik einzumischen. Schröder erklärt ein Drittel der Vorschläge, die Stoiber zur Belebung des Arbeitsmarkts vorgelegt hat, für „nicht neu“ und scheint das für ein hinreichendes Gegenargument zu halten.

Solange das Thema des Wahlkampfes nicht feststeht, solange ist auch nicht zu sagen, wodurch die Wahl entschieden wird. „Wenn es stimmt, dass das Fundament für den Wahlsieg 2002 in den stimmenreichen Südländern Bayern und Baden-Württemberg gelegt wird, dann ist Stoiber fast schon Kanzler“, heißt es in einem Kommentar der Süddeutschen Zeitung vom 1. Juli. Ja, wenn es stimmt. Am nächsten Tag ist im selben Blatt im Zusammenhang mit dem unionsinternen Streit über den Familienstand von Katherina Reiche zu lesen, die Union habe „sich gesellschaftspolitisch entlarvt. Das kann entscheidend sein bei einer Wahl, in der sich die Konzepte der beiden großen Parteien ansonsten wenig unterscheiden.“

Es kann entscheidend sein. Oder auch nicht. In der taz findet sich am 11. Juli die Ansicht: „Unter allen Parteien hat es sich herumgesprochen: Die Bundestagswahlen werden in Magdeburg, Schwerin und Dresden entschieden.“ Gut zu wissen. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Wahlen natürlich auch im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen entschieden werden. Und in der Mitte. Und von den jungen Frauen mit Kinder- und Karrierewünschen. Sowie von den Rentnern, Globalisierungsverlierern und Beamten. Anders ausgedrückt: Vieles spricht dafür, dass am Ende die Summe aller abgegebenen Stimmen den Ausschlag geben wird.

Nicht einmal die zum Klischee geronnene Erkenntnis, der zufolge die Wirtschaftslage über die Wahl entscheidet, hilft weiter. In diesem Bereich ist allerdings die Enttäuschung über die Politik der rot-grünen Bundesregierung besonders groß. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte kürzlich eine Allensbach-Umfrage, die Erwartungen hinsichtlich der Nutznießer von rot-grünen Reformen aus dem Jahr 1998 mit Einschätzungen aus dem Jahr 2002 verglich. Die Ergebnisse sind niederschmetternd für die Koalition.

Zu Beginn der Legislaturperiode hatten nur vierzehn Prozent der Befragten angenommen, die Reichen würden von Maßnahmen der Regierung profitieren – inzwischen sind es 38 Prozent. 33 Prozent hatten erwartet, es werde den Armen besser gehen. Das meinen heute nur noch sechs Prozent. 43 Prozent finden, die Unternehmer konnten Nutzen aus den rot-grünen Reformen ziehen. Erwartet hatten das nur neunzehn Prozent. Hinsichtlich der Arbeitnehmer ist das Verhältnis fast genau umgekehrt: 42 Prozent hatten Hoffnungen mit dem Machtwechsel verknüpft, nur noch zwölf Prozent sehen sich darin bestätigt.

Das alles ändert jedoch nichts daran, dass Gerhard Schröder nach wie vor weit populärer ist als Edmund Stoiber. Das dürfte auch daran liegen, dass man beim Kanzler wenigstens weiß, woran man ist. Je mehr sich der Eindruck verfestigt, Stoiber habe vor den Wahlen mehr Kreide gefressen, als er verdauen kann, desto unheimlicher erscheint er weiten Teilen der noch unentschlossenen Öffentlichkeit. Wer vermag schon zu sagen, zu welchen Schritten der CSU-Vorsitzende nach einem Wahlsieg bereit wäre? Kritik an der Regierung ist nicht gleichbedeutend mit Wohlwollen gegenüber der Opposition.

Ohnehin misstrauen die Leute in keinem anderen Bereich den öffentlichen Äußerungen von Politikern so sehr wie auf dem Feld der Wirtschaftspolitik. Dazu haben sie allen Anlass. Rentenlüge, Steuerlüge, absurde Versprechen hinsichtlich der Entwicklung des Arbeitsmarktes: die Geschichte der bundesdeutschen Wahlkämpfe ist eine des gebrochenen Wortes. Da in diesem Zusammenhang alle Seiten gleichermaßen Dreck am Stecken haben, gibt es auch für niemanden einen Kredit an Glaubwürdigkeit. Zu Recht, wie sich in diesen Wochen zeigt. Niemals zuvor haben die Parteien auf vergleichbar unseriöse Weise um die Gunst der Wählerinnen und Wähler geworben.

Früher galten immerhin die jeweiligen Programme als Richtschnur, wie unverbindlich sie auch sein mochten. Dieses Mal gibt es einen Kommissionsbericht. Das heißt: Noch gibt es ihn nicht, denn offiziell soll er erst Mitte August übergeben werden. Aber seine Eckpunkte wurden gezielt lanciert, und nach ersten positiven Reaktionen in den Medien wird nun ein informelles Papier behandelt wie ein überraschend gehobener Goldschatz. Die Empfehlungen der Hartz-Kommission, die unter anderem eine moderne Form der Leihsklaverei für allein stehende Arbeitslose beinhalten, wurden sofort in zahlreichen Leitartikeln als Ende des Stillstands bejubelt. Da traute sich der versprengte Rest der Linken in Gewerkschaften und Parteien nicht mehr zu widersprechen. Angesichts der breit gefächerten Zustimmung erschien vielen die Gefahr als allzu groß, im Falle öffentlich geäußerten Protests hinterher für die Wahlniederlage verantwortlich gemacht zu werden.

So tröstet man sich jetzt in diesen Kreisen mit der Hoffnung, nichts werde so heiß gegessen wie gekocht. Die abgeklärte Bevölkerung scheint das ähnlich zu sehen, und zwar unabhängig von der Haltung der Einzelnen zu den Empfehlungen der Kommission. Das kann nun allerdings jenen Wahlkampfstrategen gar nicht gefallen, die mit dem Bericht zu punkten hoffen. Sie schlagen deshalb immer aufgeregter mit den Flügeln.

Nun ist gar eine Sondersitzung des Bundestages im Gespräch. Eine Sondersitzung zur Arbeitsmarktpolitik! Als ob die Erwerbslosen so unerwartet über die Republik gekommen wären wie seinerzeit Zieten aus dem Busch. Wenn eine Opposition nicht einmal daraus Honig zu saugen versteht, dann wird sie überhaupt keine Gelegenheit zu ergreifen verstehen. Die Union zieht keinen Honig, sondern erarbeitet schleunigst ein eigenes Papier. Nicht zuletzt, um von der Uneinigkeit in den eigenen Reihen abzulenken. Einige Mitglieder ihrer Führungsmannschaft vermochten nämlich den Ratschlägen der Hartz-Kommission durchaus positive Seiten abzugewinnen – bevor Stoiber zu erkennen gab, dass er seinen Rivalen links zu überholen beabsichtigt. Was, zugegeben, so schwierig nicht ist.

1998 hatte nur eine Minderheit der wahlberechtigten Bevölkerung ein rot-grünes Bündnis für eine gute Idee gehalten. Selbst in den Reihen der SPD wäre der Mehrheit eine große Koalition erheblich lieber gewesen, und das wussten natürlich auch die Spitzenpolitiker der neuen Regierung. Beide Partner reagierten darauf ganz in der Tradition der deutschen Sozialdemokratie. Wenn es eine konkrete Möglichkeit der Gestaltung von Politik gibt, dann gilt es, glaubhaft zu beteuern, so ernst sei das eigene Programm nicht gemeint gewesen.

Die rot-grüne Koalition hat in den vergangenen Jahren gar nicht so wenige Punkte ihres Programms verwirklicht: die Förderung alternativer Energien, beispielsweise, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts, die Erweiterung der Rechte behinderter Menschen, die Besserstellung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften. Wehrmachtdeserteure wurden rehabilitiert, Zwangsarbeiter endlich – endlich! – entschädigt. Im Zusammenhang mit dem Streit über die Kompetenzen des Internationalen Strafgerichtshofes hat die Regierung sogar außenpolitisch einmal eine Haltung bezogen, die nicht überwiegend von bußfertiger Reue für frühere Positionen einiger rot-grüner Spitzenkräfte geprägt war.

Aber für das meiste von dem, was in Übereinstimmung mit dem Koalitionsvertrag erledigt wurde, galt der Grundsatz: Bloß nicht drüber reden! Damit es nur ja niemand von denen merkt, denen eine prinzipiell ablehnende Haltung gegenüber Rot-Grün unterstellt wird. So wird denn nicht mehr über die gewünschte ökologische Lenkungswirkung der Ökosteuer gesprochen, sondern nur noch über die damit einhergehende Senkung der Lohnnebenkosten. Die Vorstellung, das Zuwanderungsgesetz könne im Wahlkampf thematisiert werden, erzeugt bei denjenigen kaum verhüllte Panik, die dafür verantwortlich sind.

Ausrufezeichen werden stattdessen hinter politische Erklärungen gesetzt, die eben gerade nicht vereinbar sind mit einem rot-grünen Programm. Der sozialdemokratische Bundeskanzler demonstriert Unzufriedenheit, weil noch immer nicht alle europäischen Länder bereit sind, Asylbewerbern die letzten Fluchtwege zu versperren. Nach Ansicht seines ehemals als liberal geltenden Innenministers sollen sich Ausländer, die den Weg nach Deutschland finden, hier assimilieren. Darüber hinaus lässt die Regierung keinen Zweifel daran, dass sie Krieg unter bestimmten Umständen für ein geeignetes Mittel zur Durchsetzung von Menschenrechten hält. Mögen Angriffskriege vom Grundgesetz auch verboten werden: Es scheint nicht nur einen Unterschied zwischen gefühlter und gemessener Temperatur zu geben, sondern auch einen zwischen gefühltem und geschriebenem Recht. Das gefühlte gewinnt.

Die Distanzierung des rot-grünen Lagers von eigenen, früheren Ansichten hat Konsequenzen. Zahlreiche Themen, die traditionell von der Linken besetzt werden, finden in der öffentlichen Debatte überhaupt nicht oder doch kaum noch statt, da SPD und Grüne diese seit der Regierungsübernahme nicht mehr aufzugreifen wagen.

Die Flughafenregelung zur Abschiebung unerwünschter Ausländer, beispielsweise, die Gefahren, die mit einer Abschottung Europas vom Rest der Welt einhergehen, oder die Globalisierungskritik. Von militärkritischen Positionen ganz zu schweigen. Nicht einmal die spätestens seit dem 11. September in den Mittelpunkt des öffentlichen Bewusstseins gerückte Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Westen und dem Rest der Welt spielt derzeit in der politischen Debatte eine größere Rolle.

So absurd es auch ist: All das hätte nur dann wieder eine Chance auf Aufmerksamkeit, wenn Sozialdemokraten und Grüne auf die Oppositionsbank verbannt würden. Wie wirkungsvoll ist eine Opposition? Kann die bloße Thematisierung dieser und anderer Fragen der Linken wichtig genug sein, um einen CSU-Kanzler dafür in Kauf zu nehmen? Schwer zu sagen.

Die Prognose sei gewagt: Kein Wahlforschungsinstitut wird am 23. September zu der Schlussfolgerung gelangen, die Wahl sei von enttäuschten Linken entschieden worden. Stimmen wird es vielleicht trotzdem.

Denn in einem Wahlkampf, in dem Karrierefrauen, Württemberger und Dresdener für Zünglein an der Waage gehalten werden, kann auch die Restlinke diese Rolle mit einigem Recht für sich in Anspruch nehmen. Aber: Wohin züngelt sie?

BETTINA GAUS, 45, ist parlamentarische Korrespondentin der taz. Der Titel des von ihr zum Thema verfassten Buches lautet: „Die scheinheilige Republik. Das Ende der demokratischen Streitkultur“, Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2002, 183 Seiten, 9,50 Euro

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