Über die Moral des Milchwegschüttens: Milch für die Welt
Während 860 Millionen Menschen weltweit zu wenig zu essen haben, kippen in Deutschland streikende Bauern ihre Milch einfach in Gruben. Ist diese erpresserische Maßnahme vertretbar?
Edeka-Supermarkt an einem Abend in dieser Woche: Die Kunden wundern sich über Lücken im Milchregal. In diesen Tagen kann man sich auf nichts mehr verlassen, noch nicht mal auf die Kühe. Sie sind im Streik oder besser gesagt: die Bauern. Die kippen die Milch lieber in die Grube als sie den Kunden zu liefern, weil sie mehr Geld für den Liter Milch erpressen wollen. Dürfen die das?
Sitz der Welternährungsorganisation, Rom, nahe dem Circus Maximus, zur selben Zeit: Dutzende Regierungs- und Staatschefs und mehr als hundert Fachminister kommen zusammen, um Strategien gegen den Hunger zu entwickeln. 860 Millionen Menschen haben zu wenig zu essen. Das heißt: Einer von sieben Menschen weltweit geht heute hungrig schlafen. Künftig sollen es hundert Millionen Menschen mehr sein. 22 Staaten sind besonders betroffen, darunter Eritrea, Haiti oder Nordkorea. In Deutschland haben wir davon kaum eine Ahnung.
Hier schütten Bauern Milch weg, die enthält, was der Mensch braucht - Eiweiß und Kohlehydrate, Vitamine und Mineralstoffe. Gut, bis hierhin haben wir noch leicht Verständnis mit den Bauern: Sie füttern ihre Turbokühe mit teurem Kraftfutter. Sie rackern sich am Sonntag im Stall ab. Doch Discounter wie Aldi, Lidl und Penny drücken fahrlässig die Preise und bringen die Bauern in Existenznöte. Aber müssen sie die wertvolle Nahrung tonnenweise vernichten?
Erinnern sich die Bauern nicht an die Sätze, die fast alle Eltern irgendwann mal sagen: "Kind, einen Käse wirft man nicht weg, selbst wenn er schon schimmelt!" Und: "Denke an die Armen der Welt!" Was für ein Frevel, was für eine Unmoral, was für eine Sünde - stopp, es ist anders als man zunächst denkt.
Sicher, die Bauern könnten die Milch trocknen, pulverisieren und an Bedürftige in der Welt verschenken. Doch das ist nicht die Lösung, im Gegenteil - es würde das Problem nur fetter machen. Denn Europas Exporteure drängen mit ihren Produkten die Landwirte aus den Entwicklungsländern vom Markt. Zu viele Bauern etwa in Indien oder Jamaika haben längst aufgegeben, weil sie mit der weltweiten Konkurrenz nicht mithalten konnten. Nun sind diese Länder auf Importe angewiesen, die sie nicht bezahlen können.
Rund eine Milliarde Menschen weltweit muss heute von weniger als einem Dollar am Tag leben. Derweil steigen die Preise - der für Reis hat allein in den vergangenen zwei Monaten um 75 Prozent zugelegt, der für Weizen um 120 Prozent. Beim Mais sieht es ähnlich aus.
Dafür gibt es natürlich Gründe: Die Weltbevölkerung wächst jährlich um 75 Millionen Menschen. Umweltkatastrophen wie Dürren und Fluten nehmen aufgrund des Klimawandels zu. Und auf den Äckern wächst nicht mehr nur Essen, sondern auch Treibstoff. Aber es wird wenig darüber geredet: Die grüne Revolution, die die Forschungschefs von Agrarkonzernen durch Monokulturen, Chemie und Gentechnik, durch eine hoch industrialisierte Landwirtschaft versprochen haben, ist ausgeblieben. Es gibt zu wenig Nahrungsmittelproduzenten, die ihre Region versorgen.
Der europäische Steuerzahler hat das weltweite Bauernsterben lange Zeit massiv unterstützt: Jede Firma aus Europa konnte ihre Lebensmittel der Welt billig anbieten, weil sie aus dem EU-Agrartopf Geld bekam. Diese Subventionen sollen auf Drängen der Welthandelsorganisation zwar aufgehoben werden. Die hiesige Molkereiindustrie beeindruckt das aber nicht: Sie zahlt den Bauern weniger für die Milch und sahnt die Gewinne ab.
Doch erstens ist der Anspruch vermessen, dass Europa die Welt ernähren könnte. Und zweitens können bei dieser Billigmasche nur die Großen mithalten. Für mittelständische Bauern etwa aus dem hessischen Vogelsberg, wo die Höfe kleiner, die Felder hügeliger sind als im Norden, gibt es nur eine Chance: Angebot knapp halten. Der Staat hilft dabei derzeit wenig. Erst zum 1. April hat die EU die Milchquote um zwei Prozent angehoben, die Bauern sollen mehr statt weniger Milch liefern. Kaufen Sie so viel Milch wie möglich, damit die Regale im Supermarkt schneller leer werden. Das fördert die kleinbäuerliche Landwirtschaft, von der Familien leben können - im Norden wie im Süden.
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