Über den Stress, sich zu entspannen: Im Kopf tausende offene Tabs
Runter vom Dauerstress. Aber wie? Also ab in die Sauna. Und in den Auwald. Doch Entspannung auf Teufel komm raus ist ganz schön anstrengend.
A n meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag steigen mir ätherische Öle in die Nase. Es ist der erste Aufguss meines Lebens. Mein Po ist auf dem Handtuch platziert. Sieben Minuten lang sitze ich in einer Holzhütte und habe Schwierigkeiten, eine bequeme Sitzposition zu finden. Die trockene Luft macht mir Probleme. Ich muss die Augen schließen. Für meine Freund*innen scheint das gerade die absolute Mega-Entspannung zu sein, für mich ist saunieren der absolute Kampf: Ich fühle mich eklig und warte nur darauf, den Raum mit der brechenden Hitze endlich zu verlassen. Gut 16 Euro habe ich für den Eintritt bei der Sachsentherme hingeblättert, deshalb wiegt die Enttäuschung umso mehr. Denn was ich gerade brauche, ist Entspannung.
Seit über einem halben Jahr lebe ich in einem Dauerstress – tausende Tabs in meinem Kopf sind offen, aber nichts wird wirklich fertig. Mein Körper signalisiert mir schon eine Weile, dass er nicht mehr kann: Ich habe Kopfschmerzen, ich knirsche nachts mit den Zähnen, Bauchkrämpfe und Magenprobleme stehen an der Tagesordnung. Ich bin wieder unruhig und kann nicht schlafen. Owei.
Ich brauche Pause. Aber weil ich so unruhig bin, habe ich Angst, Zeit zu verschwenden, und traue mich nicht, zu entspannen. Aber weil ich nicht entspanne, kann ich nicht konzentriert an meinen Texten arbeiten, und weil ich nicht konzentriert an meinen Texten arbeite, wird nichts fertig, also werde ich unruhig. Die Unruhe hämmert wie ein Specht hinter meinem Brustkorb. Pick, pick, pick. Brrr, brrr. Hilfe.
Apropos Specht: Der Versuch mit der Sauna ist zwar gescheitert, aber mir steht ja noch ein günstigeres Tool zur Entspannung zur Verfügung: ein Waldspaziergang. Tieren beim Krabbeln zusehen, auf Bäume klettern und schweigend durch den Auwald flanieren ist tatsächlich eine Sache, die mich runterbringt. Im Frühling gibt es dort auch Wildschweinbabys zu sehen.
Die Suche nach Entspannung? Regelrechter Stress!
Die ganze Sache hat aber einen Haken: Ich brauche 40 Minuten mit dem ÖPNV dahin. Und es gibt nichts, was stressiger ist als der öffentlichen Personennahverkehr. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Busse, Bahnen und Trams sind die absolute Reizhölle. Babys kreischen, betrunkene Fußballmänner grölen, es ist viel zu heiß, die busfahrende Person fährt mal wieder zu radikal um eine Ecke, man setzt sich auf einen Kaugummi. Mit dem Rückweg aus dem Auwald bin ich also wieder bei Punkt null angelangt und setze mich zu Hause erneut gestresst an den Schreibtisch.
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Die Suche nach der Entspannung entpuppt sich als regelrechter Stress. Egal wo, ich bleibe immer bei der Erschöpfung hängen. Aber vielleicht ist das auch gar nicht der falsche Ansatz – denn ich weiß, dass Sport zum Beispiel immer ein stresslösendes Mittel für mich ist.
Ich frage mich, ob mein Körper da irgendwie falsch verdrahtet ist – dass ich mich bei Höchstleistungen entspannter fühle als bei einem Eukalyptus-Aufguss. Wenn ich an die Sachsentherme zurückdenke, sind mir jedenfalls nicht die Sauna oder der Whirlpool im Gedächtnis geblieben – sondern die Rutschen. Als wir hinterher noch einmal zum Wasserbereich gegangen sind, konnte ich gar nicht aufhören, zu rutschen. Aber die innere Ruhe, die ich danach empfinde, ist nur kurzweilig, weil ich immer im Hinterkopf habe, mich wieder an den Schreibtisch setzen zu müssen.
Mit ein, zwei Stunden Pause ist es in Zeiten des dauerhaften Stresses nicht getan. Ich und wahrscheinlich auch ihr, wir bräuchten alle mal zwei Monate off. Zwei Monate ohne To-do-Listen oder Existenzangst, in denen unsere Köpfe endlich so leer werden wie das Dokument, das ich eigentlich fertig schreiben sollte.
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