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UdSSR wird kleiner, Gorbatschow wird größer

■ Litauen hat seine Unabhängigkeit erklärt / Ratlosigkeit in Moskau / Kongreß debattiert Präsidentenamt und Verfassungsänderungen

Berlin (adn/dpa/taz) - „Der Oberste Sowjet Litauens, der den Willen des Volkes ausdrückt, bestimmt und stellt feierlich fest, daß die 1940 von einer fremden Macht beschränkten souveränen Rechte wiederhergestellt sind“. So beginnt die Unabhängigkeitserklärung Litauens, die Sonntagabend bei Enthaltung der sechs polnischen und russischen Vertreter vom litauischen Parlament angenommen wurde. Zuvor war der Sajudis-Führer Vytautas Landsbergis mit 91 von 133 Stimmen zum Präsidenten der Republik gewählt worden.

Fünf Jahre nach Amtsantritt Gorbatschows ist sein Reich nun kleiner geworden. Er reagierte ratlos, sprach von „Grundinteressen und Zukunft der Republik, ihrer Bevölkerung und unseres ganzen Staates“, welche berührt seien. Die sowjetische Regierung beauftragte er mit einer Prüfung der Beschlüsse. An der gestern begonnenen Sitzung des Kongresses der Volksdeputierten in Moskau nehmen die litauischen Abgeordneten nicht teil, da sie den Kongreß als „ausländisches Parlament“ betrachten.

Der Volksdeputiertenkongreß soll einen Präsidenten der UdSSR wählen und sich mit der Änderung der Verfassungsartikel sechs und sieben über die Führungsrolle der KPdSU befassen. Das Ergebnis der Präsidentenwahl wird für Mittwoch vormittag erwartet. Allgemein wird mit der Wahl Gorbatschows gerechnet.

Zur Begründung der Verfassungsänderung betonte der 1.Stellvertreter des Vorsitzenden des Obersten Sowjets, Anatoli Lukjanow, die Logik der Perestroika und die Notwendigkeit ihrer Beschleunigung. Es sei eine Zunahme von Massenunruhen und zwischennationalen Konflikten zu verzeichnen. Die Neufassung der Artikel sechs und sieben solle allen Parteien, gesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen Chancengleichheit bei der politischen Willensbildung bieten.

Die Einführung eines Präsidentenamtes begründete er mit der damit verbundenen Erhöhung der Effektivität der Staatsmacht. Das neue Amt solle den Bürgerfrieden sichern und Bedingungen zum Dialog der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen schaffen. Gleichzeitig solle es jedoch konsequent demokratischen Charakter tragen.

Im Anschluß daran forderte der zur Jelzin-Gruppe gehörende Abgeordnete Juri Afanassjew den Kongreß auf, der kommunistischen Idee eine Absage zu erteilen. „70 Jahre sind eine Sackgasse; daraus müssen wir Konsequenzen ziehen“, rief er. Er wandte sich gegen die Wahl des Präsidenten durch den Kongreß. Der Präsident soll nach seinen Vorstellungen direkt vom Volk gewählt werden. Davor sollte eine neue Verfassung und ein neuer Unionsvertrag zwischen Moskau und den Republiken ausgearbeitet werden. Weitere Voraussetzungen seien die volle Pressefreiheit und die Einführung eines echten Mehrparteiensystems. Andernfalls könne das Präsidialamt gefährliche Auswirkungen haben und die Schwierigkeiten der UdSSR vertiefen.

Warschau (dpa) - „Polen erkennt das Recht eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung an“, sagte der stellvertretende polnische Regierungssprecher Wozniakowski zur litauischen Unabhängigkeit. Er meinte aber auch: „Die Entstehung eines neuen Staates unmittelbar an unserer Grenze ist eine ernsthafte Sache“. Die Beziehungen zwischen der polnischen und litauschen Bevölkerung sind seit längerem gespannt.

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