USA: Verfassungswidrige Busfahrten
Der Supreme Court beendet eine Maßnahme, die eigentlich die Rassentrennung bekämpfen sollte. Busing: die ethnische Durchmischung von Schulklassen.
WASHINGTON taz Lässt sich historisches Unrecht per Gerichtsbeschluss für beendet erklären? Diese seltsam anmutende Frage hat das Oberste Gericht der USA am Donnerstag mit einem Ja! beantwortet. Denn der Supreme Court erklärte mit einer knappen 5:4-Mehrheit für unzulässig, Schülerinnen und Schüler auf Grund ihrer Rasse bestimmten öffentlichen Schulen zuzuteilen. Damit kommt die in den USA seit 53 Jahren praktizierte bewusste Durchmischung von öffentlichen Schulen zum Ende. Dies hatte nach Meinung vieler US-BürgerInnen wesentlich dazu beigetragen hat, die Rassentrennung aufzuweichen und die Integration vor allem schwarzer Schüler zu fördern.
Es war ein durchaus idealistisch gesinnter Oberster US-Gerichtshof, der im Jahr 1954 eine Politik guthieß, die die Folgen der Rassentrennung in den öffentlichen Schulen zu reparieren suchte. Die Formel des Zusammenlebens von Schwarzen und Weißen lautete bis zur Bürgerrechtsbewegung: "Separate but equal", etwa: "Getrennt, aber gleich". Die Absicht des Urteils Brown gegen Board of Education war es, die Folgen von zweihundert Jahren Sklaverei und Segregation dadurch zu heilen, dass den Schulbehörden auferlegt wurde, nichtweißen Kindern durch eine positiv-rassistische Förderung zu ihrem Recht der Gleichbehandlung zu verhelfen. Im Supreme-Court-Urteil von 1971 erlaubte es der Gerichtshof den Schulen, Integration zu einer Priorität zu machen, auch wenn es keine positiven Auswirkungen auf die Ausbildungsqualität habe. "Die Schüler auf eine pluralistische Gesellschaft vorzubereiten" sei oberstes Ziel, so die Richter. Am Donnerstag urteilte das Oberste Gericht mit knapper Mehrheit, dass es nicht verfassungskonform sei, Kindern aufgrund ihrer Rasse und ethnischen Zugehörigkeit einen Schulplatz zuzuweisen. Die Verfassung sehe keine Sonderbehandlung farbiger US-Bürger vor. Diese hätten vielmehr ein garantiertes Recht auf Gleichbehandlung. Die "grausame Ironie" dieses Urteils, schrieb der liberale Richter Paul Stevens in der Begründung seiner Ablehnung der Mehrheitsmeinung, sei, dass es sich in seiner Argumentation just auf das Präzedenzurteil Brown beziehe, dieses aber "seiner ganzen Kraft und seines Geistes beraube".
Noch bei keinem Urteil ist der von Kritikern befürchtete Rechtsruck des Obersten Gerichtshofs so deutlich geworden wie bei dieser Entscheidung. US-Präsident George W. Bush hatte mit seiner Ernennung zweier erzkonservativer Richter, Samuel Alito und John Roberts, diese Verschiebung der Gewichte bewusst angestrebt. Es war im Jahr 1954 der gleiche Supreme Court, der im Urteil Brown gegen Board of Education entschied, dass die nach Rassen getrennte Schule von sich aus Ungleichheit schaffe. Die Richter hatten damals einstimmig verfügt, dass die Schulen des Landes die Pflicht hätten, für eine Integration aller Minderheitenkinder zu sorgen. Seit den 70er-Jahren führte dies zur Praxis des "Busing", bei der weiße, schwarze und Latino-Kinder in den unverkennbaren orangenen Schulbussen von einem Schulbezirk in den nächsten geshuttelt wurden, um so die ethnische Durchmischung der Klassen zu fördern.
"Die Diskriminierung aufgrund der Rasse beendet man dadurch, dass man die Diskriminierung aufgrund der Rasse beendet", schrieb der Oberste Richter John Roberts für die Mehrheit. Clarence Thomas, der einzige schwarze Richter des Gremiums, schloss sich der Entscheidung an. In einer getrennten Begründung schrieb er, die Verfassung, die allen Gleichheit garantiere, sei "farbenblind". Für die Minderheit schrieb der liberale Richter Stephen Breyer, es bestehe noch längst keine Gleichheit. "Dies ist eine Entscheidung, die das Gericht und die Nation noch bereuen werden."
Der Aufschrei der Kritiker gegen das Urteil war entsprechend. Es sei ein Schlag gegen die Integration. "Dieser Supreme Court beunruhigt mich", sagte der schwarze Exaußenminister Colin Powell. "Das Gericht hat unter Roberts erneut seine Bereitschaft gezeigt, zentrale Garantien der Verfassung zu schwächen", sagte die demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton. Sie, ihr Kollege und Mitbewerber Barack Obama sowie andere demokratische Kandidaten verurteilten die Richterentscheidung als einen "Rückschritt für das Miteinander der Rassen im Land", wie es Obama, Sohn eines schwarzen Vaters und einer weißen Mutter, formulierte. Das Urteil komme zu einer Zeit, in der die Gesellschaft des Landes so multiethnisch sei wie noch nie. Gleichzeitig sei an den Schulen ein starker Trend zur Rassentrennung zu beobachten, sagten Kommentatoren. Laut US-Statistik besucht jedes sechste schwarze Kind eine Schule an der ausschließlich Kinder von Minderheiten unterrichtet werden.
Befürworter des Urteils hatten dagegen erklärt, der Staat dürfe, wie es auch die Verfassung vorsehe, Rasse nicht als ein Kriterium nehmen. Schwarzen und braunen Kindern werde mit dem Busing eine falsche Botschaft vermittelt. Denn "die hohe Schulabbrecherquote unter schwarzen Schülern und Latinos und ihre exorbitant schwächeren Leistungen im Vergleich zu weißen Schülern verhöhnen das Versprechen der Chancengleichheit, das im Urteil von Brown vs. Board of Education gegeben wurde", verteidigt die New York Times das Urteil. Zudem hätten sich die Schulen des Landes seit Jahrzehnten mehr und mehr entlang ethnischer Linien getrennt, obwohl die Schulbehörden dagegen gearbeitet hätten. Auch baten bereits in den 90er-Jahren schwarze und weiße Eltern verzweifelt darum, das Herumkutschieren ihrer Kinder wegen deren Rassenzugehörigkeit zu beenden. Deshalb sei das Busing in einigen Counties der USA bereits eingestellt worden. Das Gerichtsurteil geht auf eine solche Klage von Eltern in Seattle sowie in Louisville im Bundesstaat Kentucky zurück. Dort hatten die Behörden versucht, eine Mischung in den Schulen sicherzustellen. So wurden in Louisville die Schüler so zugeteilt, dass der Anteil von Schwarzen zwischen 15 und 50 Prozent lag. In Seattle hatten die Schüler die freie Wahl der Schule, die Behörde schritt aber regulierend ein, wenn sich eine beträchtliche ethnische Konzentration andeutete.
Scharf kritisiert wurde auch der Kongress, der die beiden von Bush ernannten Richter bei seinen Anhörungen bestätigt hatte. Nun hätten sich die neuen Richter, Roberts und Alito, als genau die "konservativen Aktivisten" geoutet, als die viele sie bereits gesehen hatten. Die Abschaffung des Urteils Brown vs. Board sei nur ein Meilenstein in einem lange gehegte Plan eines Justizmarschs nach rechts, schreibt die Washington Post. Die Anhörungskomitees im Senat hätten sich von den Richterkandidaten schlichtweg belügen lassen, als diese kundgaben, sie unterstützen die Abschaffung der Rassentrennung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“