US-Soldaten verlassen Irak: Bei Dunkelheit schnell nach Hause
Ab Mittwoch sollen sich US-Truppen aus allen größeren irakischen Städten zurückziehen. Ein Besuch in Mossul, einer der wichtigsten Drehscheiben für Extremisten im Irak.
War es die zehnte, die zwanzigste oder vielleicht sogar schon die fünfzigste Offensive gegen die Extremisten von al-Qaida im Irak? Niemand weiß es genau. Nicht einmal die sonst so statistikverliebten Amerikaner haben Buch geführt. Für die Bürger von Mossul ist das auch egal. Sie messen ihre eigene Sicherheit nicht in Schaubildern und Zahlenkolonnen, sondern in Metern und Minuten. "Hier ist es sicher", sagt unser Fahrer und deutet auf ein paar heruntergekommene Einfamilienhäuser. "Dort drüben sind die Terroristen." Die Häuser schauen gleich aus, nur eine Straßenzeile trennt sie.
Um vom Ostteil der Stadt ins Zentrum zu gelangen, müssen wir dreimal das Auto wechseln und mit ihm unsere Bewachung. Halb eingefallene Gebäude aus geborstenem Stahl und Beton säumen die Hauptstraße. Zum Teil sind ganze Fassaden weggerissen. An anderen gähnen, da, wo einst die Fenster waren, rußgeschwärzte Löcher. Niemand scheint sich um die Kriegsruinen zu kümmern. Dazwischen türmen sich Müllhaufen und Schotter.
Je näher wir dem Zentrum am Westufer des Tigris kommen, desto spärlicher wird der Verkehr. An Checkpoints überprüfen Polizisten und Soldaten die Fahrzeuge und Passanten. Es dämmert bereits, und wie auf Knopfdruck schließen die Ladenbesitzer ihre Geschäfte. Kundschaft gibt es ohnehin kaum noch. Ein paar Männer und eine einsame Frau in knöchellangem, schwarzen Umhang huschen noch über den Markt. Spätestens bei Einbruch der Dunkelheit will jeder zu Hause zu sein.
Amerikanische Soldaten begegnen uns diesmal nicht. Vom 1. Juli an sollen sie mehr oder weniger ganz aus dem Stadtbild verschwinden. Gemäß dem zwischen Bagdad und Washington geschlossenen Sicherheitsabkommen müssen sich die Kampftruppen dann auf ihre Basen zurückziehen. Zwar werden sie weiterhin als Berater und Ausbilder tätig sein, doch schießen und patrouillieren dürfen sie dann nur noch auf irakisches Geheiß, außer zu ihrer eigenen Verteidigung. Für Sicherheit und Ordnung sind die Iraker dann allein zuständig.
Athil Nujaifi, der Gouverneur der Provinz Ninive um Mossul, ist zuversichtlich, dass alles gut geht. In Mossul gebe es drei Faktoren für die Gewalt, sagt Nujaifi. Einerseits die Widerstandsgruppen, die den politischen Prozess ablehnen, andererseits die ausländischen Dschihad-Krieger im Schlepptau der Terrorgruppe al-Qaida und dann noch die gewöhnlichen Kriminellen, die es überall auf der Welt gebe. Alle drei würden unter dem Vorwand des Widerstands gegen die Amerikaner operieren. "Ich glaube, dass es nach dem Abzug der Amerikaner sogar besser wird", sagt Nujaifi. "Denn dann entfällt der Grund für ihre Angriffe."
Die meisten Anschläge werden freilich nicht auf die Amerikaner, sondern auf irakische Polizisten, Soldaten, Politiker und Zivilisten verübt. Leuchttafeln an der äußeren Schutzmauer um Nujaifis Amtssitz illustrieren die extreme Gewalt, die in Mossul herrscht. Auf farbigen Porträts blicken 13 Mitglieder des Provinzrats mit ernstem Blick den Betrachter an. Zwei von ihnen waren Frauen, eine trägt ein grünes Stirnband als Zeichen ihrer tiefen Religiosität. Sie mussten sterben, weil sie sich der bedingungslosen Ideologie der Dschihad-Extremisten nicht unterwerfen wollten.
Wegen der Nähe zur syrischen Grenze war Mossul schon immer die wichtigste Drehscheibe für die Extremisten. Zwar hat der Zustrom laut den Amerikanern mittlerweile stark nachgelassen. Aber er sei überrascht von der Hartnäckigkeit, mit der sich die Extremisten halten, sagte der amerikanische Kommandant von Mossul kürzlich.
Um das mühsam gewonnene Terrain nicht zu verlieren, wollte General Raymond Odierno, der amerikanische Oberbefehlshaber im Irak, vor Wochen noch den Rückzug aus Mossul verschieben. Der irakische Ministerpräsident Nuri al-Maliki zeigte ihm jedoch die rote Karte. Er will den Rückzug als großen historischen Sieg der Iraker feiern. Dazu hat er sogar den Vergleich mit dem Aufstand gegen die Briten im Jahr 1920 bemüht, der als Sieg über die Fremdherrschaft auch heute in keinem irakischen Schulbuch fehlen darf.
Maliki hat stattdessen mehrere tausend Soldaten und Einheiten der Nationalpolizei in den Norden geschickt. Mitten in der Stadt haben Armee-Einheiten ihre Basen aufgeschlagen. Alle vier-, fünfhundert Meter findet sich eine Garnison. Hohe Erdwälle und Stacheldraht umgeben die Lager, von Wehrtürmen aus Betonrohren überwachen Scharfschützen die Umgebung. Die ganz Stadt wirkt wie eine riesiges Heerlager.
Als die Soldaten vor drei Wochen jedoch die Kontrolle über den strategisch wichtigen Mossul-Staudamm übernehmen wollten, kam es zum Eklat. Peschmerga, die Kämpfer des kurdischen Teilstaats, die das Gebiet um den Damm bisher kontrollierten, drohten mit Gewalt. Unter Vermittlung der Amerikaner einigten sich beide Seiten auf einen Kompromiss - jetzt bewachen sie den Staudamm gemeinsam.
In diesem Fall ging es gut. Aber in Mosul will derzeit niemand darauf wetten, dass dies in Zukunft auch so bleibt. Nach dem Sturz des Saddam-Regimes haben die Kurden ihren Teilstaat bis weit vor die Tore von Mossul im Norden und Osten ausgedehnt. Die Amerikaner haben es stillschweigend hingenommen, weil sie so zumindest an einer Front Ruhe hatten. Doch Nujaifi will das nun ändern.
In den Provinzwahlen vom Januar hat die Hadba-Liste, ein Bündnis von sunnitischen Arabern um den reichen Geschäftsmann Nujaifi, einen überwältigenden Wahlsieg davongetragen. Die Kurden holten zwar ein Drittel der Sitze, verloren aber ihre bisherige Macht. Waren es früher die Araber, die sich jedem Kompromiss verweigerten, stellen heute die Kurden auf stur.
"Wir haben in Bagdad eine Vereinbarung, dass wir im Konsens regieren. Alle Ämter werden zwischen Schiiten, Sunniten und Kurden paritätisch besetzt", sagt der kurdische Politiker Herem Kamal Agha. Sein Büro ist mit mehreren Schutzringen zu einer regelrechten Festung ausgebaut. Auf Schritt und Tritt begleitet ihn ein ergebener Trupp Peschmerga. "Nicht mehr und nicht weniger verlangen wir von den Arabern in Mossul", sagt Agha. Dazu sei er durchaus bereit, erwidert ein paar Kilometer entfernt Nujaifi. Allerdings nur, wenn die Kurden in den umstrittenen Gebieten zum gleichen Schritt bereit wären.
Als Nujaifi kürzlich die Ortschaft Bashika östlich von Mossul besuchen wollte, verwehrten ihm die Peschmerga, die Soldaten des kurdischen Teilstaats, den Zutritt. Wie in vielen Städten und Weilern in der Ebene um Mossul leben in dem Ort Kurden, Christen, Jesiden und Shabak. Das Gebiet gehöre jedoch rechtmäßig zu Kurdistan, behaupten die Kurden und führen zur Untermauerung ihrer Gebietsansprüche den Wahlsieg der "Brüderlichkeit"-Liste in der Gegend ins Feld. "Sie haben zehn Kämpfer geschickt, die sich mir in den Weg stellten. Ich hatte vielleicht hundert Soldaten dabei. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie zu töten", sagt Nujaifi. "Aber ich weiß genau, dass sie so einen Zwischenfall bloß provozieren wollen."
Der Konflikt könne nur politisch gelöst werden, sagt Nujaifi. So sieht es auch Zoher Mohammed, der Bürgermeister von Mossul. Er ist zwar Araber, erhielt seinen Posten aber vor ein paar Jahren noch von den Kurden. Allen Seiten sei klar, dass sie den Konflikt nicht mit Waffen austragen können, sagt Mohammed.
Tatsächlich haben die Kurden viel zu verlieren. Mühsam haben sie sich die Anerkennung ihres Teilstaats auf internationalem Parkett erkämpft. Ohne die Rückendeckung besonders der Amerikaner stünden sie leicht auf verlorenem Posten da. Den Optimismus des Gouverneurs, dass nach dem Abzug der Amerikaner alles gut wird, teilt der Bürgermeister allerdings nicht. Die amerikanischen Soldaten sollten in Mossul weiterhin für Sicherheit und Ausgleich sorgen, sagt Mohammed in seiner schwer bewachten Residenz. "Die irakische Armee ist noch nicht so weit, dass sie die Rolle der Amerikaner übernehmen kann. Wir müssen den Bürgern klarmachen, dass wir sie hier noch brauchen." Im Irak ist jedoch Wahljahr, da will kein Politiker in den Geruch kommen, ein Lakai der ungeliebten Amerikaner zu sein.
Bis zu den Wahlen stehen noch 130.000 US-Soldaten im Land. In der Umgebung von Mossul wollen die Amerikaner künftig vor allem das Einsickern von Extremisten verhindern und sich des Konflikts zwischen Kurden und Arabern annehmen. Das ist auch dringend nötig. Denn im Nordirak fürchten bereits viele einen Bürgerkrieg.
Als wir den Amtssitz von Nujaifi verlassen, sind die Straßen beinahe menschenleer. Unter einer schummrigen Funzel sitzen drei Männer vor einer Imbissbude und trinken Tee. Außer den Polizisten und Soldaten ist weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Zwischen dem Müll und Schutt, der sich an den Straßen türmt, streunen Hunde. Auf einem schmalen Grünstreifen hat es sich eine Hündin bequem gemacht und säugt ihre Jungen. Die Kalaschnikow locker in der Hand, läuft ein einsamer Soldat die Brücke über den Tigris, der den West- vom Ostteil der Stadt trennt, hoch und runter. Der Fahrer macht kurz langsam, dann gibt er Gas und braust so schnell wie möglich davon. Über der Stadt liegt die tiefe, schwarze Nacht.
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