US-Podcast „Classy“ über Klassismus: Was zum Teufel ist eine Gremolata?
Jonathan Menjivar macht einen Podcast über Klassenangst, der eher unpolitisch sein möchte – und hat damit großen Erfolg. Wie ihm das gelungen ist.
Ein Dach über dem Kopf haben, eine bestimmte Klamottenmarke tragen, Austern schlürfen – manchmal sind es konkrete Dinge, die die Schwelle der eigenen Klasse markieren. Für Jonathan Menjivar sind das Kaschmirsocken. Nur mit der Hand waschbar, besonders warm und kuschlig. Früher hätte er sich Kaschmir an den Füßen nicht leisten können, heute genießt er es.
Doch die Socken sind auch ein Symbol seines inneren Konflikts: „Ich bin im falschen Team, wenn ich diese Socken trage“, erzählt er in „Classy“. Der US-amerikanische Podcast versucht, die emotionalen Widersprüche zu ergründen, die Menjivar bei seinem sozialen Aufstieg begegnen. Dafür wurde die achtteilige Reihe vom Time Magazine und dem New Yorker zu einem der zehn besten Podcasts 2023 gewählt.
Menjivar, ein Riesenbrille-tragender Mittvierziger mit zuversichtlichem Lächeln, stammt aus einer Arbeiterfamilie aus Südkalifornien. Seine Eltern sind aus El Salvador ausgewandert, vor ihrer Rente arbeiteten sie als Trucker und Fabrikarbeiterin. Obwohl Jonathan Menjivar mittlerweile in einem Eigenheim in New Jersey lebt und in den Medien arbeitet, fühlt er sich im Herzen noch immer als Teil der Arbeiterklasse. Zumindest, wenn es um die Frage nach gut und böse geht.
Für ihn gibt es darauf eine klare Antwort, die auch in der Popkultur verbreitet ist: Reiche sind schlechte Menschen. Das zeigen Serien wie „Succession“ oder „White Lotus“ oder die finstere Erbin Cruella de Vil in „1001 Dalmatiner“. Menjivar fragt sich: Ist er jetzt selbst einer der Bösen?
Vor einigen Jahren wies seine Freundin ihn darauf hin, dass sich seine Art zu lachen sehr verändert hatte. Jonathan Menjivar ist davon peinlich berührt, denn er hatte unbewusst die Lache seiner Chefin während des Praktikums bei einem renommierten Radiosender übernommen.
Scham im Sternerestaurant
Eine weitere Form der Klassen-Scham begegnet ihm Jahre später wieder, als er mit einem befreundeten Comedian feststellt: Sie können sich zwar die schicken Manhattaner Restaurants leisten, aber wohl fühlen sie sich dort trotzdem nicht. In einer Folge von „Classy“ besuchen sie ein Sternerestaurant und podcasten ihre Erlebnisse ins Mikrofon.
Als sie den Kellner danach fragen, was ein Kampachi Crudo sei, antwortet dieser mit noch mehr Fremdwörtern: Der Kampachi (ein Fisch) wird im Stil eines Sashimi serviert, darauf kommt eine Gremolata. Was das ist, wissen sie nicht. Doch sie bedanken sich und entschuldigen sich sogar für ihre Nachfrage. Das ärgert sie, denn wofür haben sie sich entschuldigt?
Diese radikale Ehrlichkeit, in der sich viele Hörer*innen wiederfinden dürften, macht „Classy“ zu mehr als einer Klassismus-Lehrstunde. Für seinen Podcast wählt Jonathan Menjivar eine ungewöhnliche Perspektive: Es geht ihm weder um Armutsvoyeurismus noch um Reichenbashing, sondern um die allgegenwärtige „class anxiety“ – Klassenangst. Demnach würden sowohl Arme und Ungebildete gegenüber Reichen permanent die Sorge haben, etwas Falsches zu sagen.
Gleichzeitig würden Reiche ihren Wohlstand aus Scham verstecken. Wie eine Upper-East-Side-Millionärin aus der ersten Folge, die das Preisschild eines überteuerten Brotlaibes entfernt, damit ihre Reinigungskraft es nicht entdeckt. Mitleid hat man mit der Millionärin natürlich nicht. Für den Podcast ist dieser breite, moralisch nicht überhöhte Blick auf Klassismus enorm gut.
In Deutschland erlebt Klassismus in den letzten Jahren eine Art Dauer-Renaissance. Ursprünglich stammt der Begriff aus dem 19. Jahrhundert, seit dem Entstehen der Intersektionalitätstheorie in den 70er Jahren ist er ein fester Bestandteil identitätspolitischer Debatten. In den zehner Jahren folgten auf Didier Eribons Roman „Rückkehr nach Reims“ eine Reihe von Sachbüchern über Klassismus und autofiktionale Klassen-Romane. „Classy“ nimmt sich als erster großer Podcast des Themas mit dem Blick durch eine lebensweltliche Popkulturbrille an.
Keine Realpolitik
Wieso Klassismus so aktuell bleibt, ist auch mit der Unfähigkeit der Gesellschaft zu erklären, Klassendifferenzen offen und schamfrei zu thematisieren. In „Classy“ werden sie die „Abgründe“ genannt, die „zwischen uns stehen und über die kaum jemand redet“.
Ein solcher Abgrund tut sich auch zwischen Jonathan Menjivar und seinem Vater auf. Als der seinen Sohn an der Ostküste besucht, versteht er nicht, warum ein T-Shirt der Lieblingsmarke seines Sohnes 100 US-Dollar kostet. Der findet den Preis zwar gerechtfertigt, versteht aber wiederum nicht, warum sich sein Vater einen riesigen Fernseher und ein protziges Auto gekauft hat.
Das könnte man als reine Geschmacksfrage sehen, aber darin steckt eben auch Klasse. Mit solchen emotionalen Momenten schafft es die Show elegant, Klassismus zu vermitteln.
Natürlich kann man „Classy“ auch das Problem vorhalten, das viele Identitätspolitikkritiker*innen mit der Klassismusdebatte haben: Das erhöhte Bewusstsein über klassenbedingte Ausgrenzung bringt den Armen auch nicht mehr Geld. Doch Wissen über Ausgrenzung und Forderungen nach ökonomischer Gerechtigkeit müssen sich nicht im Weg stehen.
Es ist konsequent, dass sich „Classy“ gar nicht erst mit Realpolitik aufhält. Stattdessen schafft er, was Podcasts und Literatur am besten können: Sie öffnen Denkräume, leisten Aufklärung, deuten Begriffe um. Der Name „Classy“ zielt auf Stil und Eleganz ab: schöne Kleider, schicke Restaurants, Benimmregeln. Der Ausspruch „Jemand hat Klasse“ beziehe sich auf eine weiße Oberschicht, findet Menjivar.
„Ich fand es schön, es umzudrehen und zu sagen: Du kannst Klasse haben, egal wo du herkommst.“ Die Würde, den Luxus und die Grandeur, die wir mit Klasse verbinden, könne jeder für sich selbst definieren und erleben. „Um classy zu sein, musst du dich nicht an einer weißen Elite orientieren.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich