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US-Bestseller über die MillennialsDie erste Normcore-Intellektuelle

Jia Tolentino wird als feministisches Sprachrohr der Millennials gefeiert. Sie untersucht Strategien weiblicher (Selbst-) Inszenierung.

„Der Boom des persönlichen Essays ist vorbei“, sagt Tolentino Foto: Elena Mudd

„Lebe wohl, Hope Hicks, ein Musterbeispiel für den schnellsten Weg nach oben, den eine Frau in einer misogynen Welt gehen kann: Schweigsamkeit, Schönheit und bedingungslose Fügsamkeit gegenüber Männern.“ Mit diesen Worten kritisierte die Autorin Jia Tolentino die scheidende PR-Beraterin von US-Präsident Trump auf Twitter.

In der Folge warf ihr die New York Times Sexismus vor. Genau das, so Tolentino, ist das Problem mit dem feministischen Mainstream: Wenn eine Frau Sexismus für sich reklamiert, wird sie von Fe­mi­nis­t*in­nen hofiert, während die Attacken der Gegenseite zunehmen.

Im Echoraum der sozialen Medien werden Frauen reflexartig angefeindet und bewundert zugleich. Über diesen Widerspruch schreibt Tolentino in ihrer Debüt-Essaysammlung „Trick Mirror: Über das inszenierte Ich“. Wie lässt sich das hypersichtbare Drama weiblicher Identität navigieren, ohne die eigenen Social-Media-Kanäle zu löschen und aufs Land zu ziehen? Diese Frage stellt die New-Yorker-Redakteurin in neun Essays, die von der „écriture féminine“ übers Heiraten bis zur Finanzkrise reichen.

Überperformance und Muschifurz

Wenn die Zeichen auf Selbstoptimierung stehen, kann die Überperformance für Befriedigung sorgen. In „Optimierung ohne Ende“ erzählt Tolentino, warum sie ihren Yoga-Kurs aufgibt, als ihrer Nachbarin beim Krieger II ein „fetter, feuchter Muschifurz“ nach dem anderen entfährt. Der mittelbare Kontrollverlust treibt sie zum „Pure Barre“, einem funktionalen Fitnesstrend, bei dem Frauen Hunderte Male Ballettbewegungen ausführen, um den Körper einer Ballerina nachzuformen.

„[D]ie Arbeit, die für diesen Körper nötig ist – das Ritual, die Disziplin“, empfindet Tolentino als erotisch. Manchmal ist ein geschickt vermarktetes Narrativ eben stärker als das Bewusstsein, dass „man sein Leben von Gewohnheiten bestimmen lässt, die man selbst für lächerlich und womöglich unvertretbar hält“. Die Unterwerfung unter eine sadistisch strenge Fitness-Trainerin geht mit der Lust einher, das Ideal der durch Schmerz gestählten Powerfrau zu erfüllen.

Wie problematische bis gewaltvolle Weiblichkeits-Erzählungen die Urteilskraft von Frauen prägen, davon erzählt auch der Essay „Wir kommen aus Old Virginia“. Er berichtet vom Umgang mit sexueller Gewalt an Tolentinos Alma Mater, der University of Virginia (Charlottesville). Für Aufsehen sorgte dort 2014 ein Rolling Stone-Artikel über eine mutmaßliche Massenvergewaltigung durch Angehörige einer Studentenverbindung.

Das Buch

Jia Tolentino: „Trick Mirror. Über das inszenierte Ich“. Aus dem Englischen von Margarita Ruppel, S. Fischer, Frankfurt/Main 2021, 368 Seiten, 22 Euro

Als immer mehr Ungereimtheiten an der Berichterstattung aufkamen, zog die Zeitschrift den Artikel zurück, später wurde sie vor Gericht zu einer Millionenentschädigung verurteilt. Tolentinos nuancierter Darstellung gelingt es, das Ausmaß sexueller Gewalt am Campus zu verdeutlichen und gleichzeitig die Selbsttäuschung der Beteiligten zu kritisieren.

Sie belegt, wie sich die Universität jahrzehntelang aus der Verantwortung zog – insbesondere wenn weiße Männer schwarze Frauen vergewaltigten. Die Journalistin Sabrina Rubin ­Erdely ihrerseits „tat so, als sei die Story, an die sie glaubte […], bereits wahr.“ Sie berichtete von einem Ereignis, das sich so ähnlich täglich abspielt, und das trotzdem falsch ist. Und machte aus der schrecklichen Banalität einer Vergewaltigung eine glatte Titel-Story.

Alles in eine Geschichte verwandeln

„Ich vergesse alles, was ich nicht in eine Geschichte verwandeln muss“, bekennt auch Tolentino. „Ich mache mir jedoch auch darüber Sorgen, dass ich womöglich vor allem an narrativer Beständigkeit interessiert bin.“ Die Autorin, die sich ihre Sporen zunächst als Redakteurin woker feministischer Onlinemedien wie The Hairpin und ­Jezebel verdient hat, ist sich der Versuchung der shiny Oberfläche allzu bewusst. Dennoch tappt auch sie bisweilen in die Falle, eine eingängige Geschichte zu erzählen.

Richtig langweilig ist „Trick Mirror“ da, wo sie Klischees über Mil­len­nials („Die Geschichte einer Generation“) im Internet („Das Ich im Internet“) droppt, „dieser fieberhaften, elektronischen, unerträglichen Hölle“. Diese Art der Selbstvergewisserung ist nicht nur unterkomplex, sie ist als allgemein gehaltene Gegenwartsthese auch schlecht gealtert. Tolentino schrieb die abgedruckten Essays zwischen Frühjahr 2017 und Herbst 2018. Vielleicht ist diese Prä-Corona, Mid-Trump-Ära uns zugleich zu nah und zu fern, als dass wir ihr gerade jetzt allzu viel abgewinnen könnten.

Viel stärker ist Tolentino ohnehin, wenn sie das Korsett erzählerischer Konsistenz sprengt. Eine wahre Freude ist „Ecstasy“, ein Essay über ihr Aufwachsen in Houston, Texas. Nahtlos wechselt sie darin zwischen evangelikalen Megachurches und chemischen Drogen, der Autorin Simone Weil und der Entstehung der DJ-Technik „chopped and screwed“.

Letztere klingt für Tolentino so wie das Hustensirup-induzierte „Lean-High“ „ein berauschendes, dissoziatives Gefühl von Sicherheit, als würde man sich sehr langsam auf eine Erkenntnis zubewegen, die man nicht zu verstehen braucht“.

Klug und zweifelnd

In den besten Fällen entfaltet sich ein Tolentino-Essay genau so, im Wirbel breitgefächerter Referenzen, kluger Beobachtungen und zweifelnder Rückfragen, bis die Leserin, genau wie Tolentino selbst, nicht mehr weiß, wo eigentlich oben und unten ist. Der titelgebende Trickspiegel hält „die Illusion von Makellosigkeit als auch die Option der Selbstgeißelung“ bereit.

In den USA wurde „Trick Mirror“ nach dem Erscheinen 2019 ein Bestseller. Es folgten Vergleiche mit den großen US-amerikanischen Essayistinnen Joan Didion, Susan Sontag und Rebecca Solnit – sowie Verrisse gleichaltriger Peers. Die Kritikerin Lauren Oyler beschrieb „Trick Mirror“ als „hysterisch“ und „selbstzentriert“.

Dabei ist „Trick Mirror“ selbst da, wo es um Tolentinos eigene Erfahrungen geht, bemerkenswert unintim. Schon 2017 verkündete sie: „Der Boom des persönlichen Essays ist vorbei“. Ihre biografischen Verweise sind Tolentino Hintergrund, nicht Gegenstand ihres Schreibens. Sie scheinen mehr konventionelle Geste als genuine Offenheit zu sein.

Möglicherweise verbirgt sich dahinter die Skepsis, die sie als Tochter philippinischer Im­mi­gran­t*in­nen dem US-amerikanischen Urideal von Weiblichkeit – schön, hetero, weiß – entgegenbringt. Vielleicht hat Tolentino auch ganz einfach ihr eigenes Credo verinnerlicht: „Wir müssten uns weniger um unsere eigenen Identitäten kümmern.“

Hund, Haus, Bikini

Auf Instagram liken regelmäßig 15.000 Follower generische Fotos von Tolentinos Hund, Landhaus oder Bikinifigur. Ihr strahlendes Lächeln durchdringt sie alle, wie es ihr sonst so geht, erfahren wir nicht. Diese Ungreifbarkeit könnte gar ihr Alleinstellungsmerkmal sein: Emotional die Hosen runterzulassen ist die Währung, mit der junge Frauen für gewöhnlich für ihren Erfolg bezahlen.

Wir erwarten von der Essaysammlung einer aufstrebenden Autorin, dass sie sich verletzlich macht. Im Gegensatz dazu ist Tolentino erfrischend unaufgeregt. Und das könnte genau das sein, was dieses Girl next door zur ersten großen Normcore-Intellektuellen machen könnte.

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