US-Autor über die "Berliner Republik": Zivilisation gelungen
Der US-Autor Paul Hockenos vermittelt in seinem neuen Buch ein neues Deutschlandbild: Es ist grün und sozial.
Paul Hockenos ist ein 44-jähriger US-Amerikaner, der seit über zehn Jahren in Berlin lebt. Der Journalist, Balkan- und Hegel-Experte spricht gutes Deutsch mit schwerem Akzent und pflegt ein liebevolles Verhältnis zur deutschen links-liberal-alternativen Soziokultur. Umso mehr verzweifelt er darüber, dass US-amerikanische und britische Zeitschriften stets Geschichten über Neonazis, Bier oder Bratwurst anfordern.
Anlässlich der EU-Ost-Erweiterung rief eine Redakteurin aus Boston an und bat Hockenos, über die neue "Berlin/Wien-Achse" zu schreiben. Schließlich würden Deutschland und Österreich sich nun erneut Osteuropa untertan machen. Er erklärte ihr, dass die EU genau deshalb bestehe, solches zu verhindern. Erfolglos: "Es war das letzte Mal, dass sie mich angerufen hat."
Das kann so nicht weitergehen, befand Hockenos. Er schrieb ein Buch: "Joschka Fischer and the Making of the Berlin Republic: An Alternative History of Postwar Germany", das er jüngst in Berlin im Archiv Grünes Gedächtnis, dem Parteiarchiv der Grünen, vorstellte. Um die Nachkriegsgeschichte, die neuen sozialen Bewegungen, die Grünen und Fischer zwischen zwei Buchdeckel zu klemmen, bedarf es schon der Zuspitzungsfreude eines Amerikaners. Doch nutzt dies nicht nur dem englischsprachigen Publikum. Hockenos These lautet: Die Rolle der neuen sozialen Bewegungen bei der Zivilisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik wird unterschätzt. Er möchte den Blick darauf lenken, dass es jenseits des kurzen Feuers der Studentenrevolte Millionen von Menschen gab, die in der Friedens-, der Frauen- und der Umweltbewegung Zivilcourage und "civil consciousness" einübten, was mit "bürgerliches Bewusstsein" nur unzureichend übersetzt ist.
"Ich weiß, dass man Zivilisierung und Engagement schwer messen kann", sagte er bei der Buchvorstellung. Demo-Teilnehmer zu zählen sei jedenfalls nicht der Weg. Gern hörte die kleine Kongregation, dass er die Grünen in seine Zivilisierungsthese mit einschloss. Aber wie sich das mit Fischer, dem rücksichtslosen Machtpolitiker, vertrage? Hockenos schürzte die Lippen. "Ein Realo will die Macht, weil er ohne Macht nichts erreicht" - Punkt.
Ob aber die Grünen ihre Zivilisierungsfunktion nicht im selben Maße verloren haben wie ihren Bewegungscharakter - das wäre dann Gegenstand des nächsten Buchs. Am besten von einem unbeteiligten Ausländer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag