: Tussen, Tod und Rituale
Das Schauspielhaus als kollektive Haltestelle: Premieren, Wagnisse und Jungregisseure bis zur totalen Erschöpfung ■ Von Annette Stiekele
Beim Konkurrenten Thalia ist der Einstand gelungen, mit Kriegenburgs konzeptionellem Sozialdrama und Kimmigs überzeugendem Schauspielertheater. Nun richten sich ein Wochenende lang alle Augen erwartungsvoll auf das größte deutsche Sprechtheater an der Kirchallee, das Deutsche Schauspielhaus. Dessen neuer Hausherr, Tom Stromberg, hat sich auf die Fahnen geschrieben, außergewöhnliches, experimentierfreudiges Theater zu wagen. Und eine neue Offenheit, denn Stromberg will das Theater stärker internationalisieren und verschiedene Kunstsparten zusammenführen. Diesen Anspruch muss er nun einlösen. Am kommenden Wochenende eröffnen zugleich vier gastronomische Orte, das Café Ellmenreich im Marmorsaal, die Torbar beim Malersaal, die Espressobar im Foyer und die neugestaltete Kantine.
Das Hauptinteresse richtet sich erst einmal auf die große Bühne. Der junge Regisseur Jan Bosse wird hier die Uraufführung von Helmut Kraussers (Der grosse Bagarozzi) neuem Stück Haltestelle. Geister zeigen. Bosse hat bereits sechs Inszenierungen erarbeitet, die für Aufsehen gesorgt haben. Vor allem seine Uraufführung von Marius von Mayenburgs Feuergesicht an den Münchner Kammerspielen beeindruckte.
In Haltestelle. Geister treffen moderne gesellschaftliche Archetypen aus verschiedenen sozialen Milieus zufällig an einer Bushaltestelle aufeinander. Darunter eine Prinzessin von einem anderen Stern, diverse Tussis und Dealer. Auch der Tod erscheint. Alle Figuren sind auf der Suche. Nach dem Glück oder nach einer Lebensutopie. „Dabei dreht es sich immer um die Fantasie als Raum für ein Bild von Wirklichkeit. Jeder versucht, Imagination in subjektive Wirklichkeit zu übersetzen,“ sagt Jan Bosse. Haltestelle. Geister verströmt einen starken Realismus. Es ist auch ein großes Ensemblestück, das den Hamburgern einige bekannte, vor allem aber viele neue Gesichter präsentieren wird.
Zur gleichen Zeit werden im Malersaal vier Personen versuchen, die schmale Balance von Lebenssehnsucht und Lebensekel zu halten. Gier (Crave) ist das letzte, im Sommer 1998 in Edingburgh, uraufgeführte, Werk der britischen Dramatikerin Sarah Kane. 27jährig nahm sie sich im vergangenen Frühjahr das Leben. Die junge Hamburger Regisseurin Ute Rauwald, den Hamburgern als Absolventin der Hamburger Schule für Schauspieltheaterregie von Jürgen Flimm und aus Arbeiten wie Sechs häßliche Töchter Inc. und Show-down Iphigenie bekannt, wird hier nicht, wie üblich, einen Klassiker auseinanderpflücken und in eine eigene Formsprache übersetzen. Erstmals wendet sie sich einem reinen Gegenwartsstoff zu, der für sie allerdings eine klassische Qualität besitzt. Aller Düsternis zum Trotz findet Rauwald eine unterschwellige Form von Heiterkeit. Die vier Figuren begeben sich auf eine Reise und geraten in Situationen, mit denen sie umgehen müssen.
Der Text bleibt unberührt, da er keinen sprachlichen Generationenkonflikt thematisiert. Damit betritt Rauwald als Regisseurin Neuland. „Das Stück ist ein Kreisen um das Verstehenwollen, die Frage, ob ich ein Ritual finde, mit meinem Leben umzugehen und wieviel die Seele aushalten kann.“ Davon findet sich bei Sarah Kane genug, Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Krieg durchziehen ihre Stücke und finden sich auch in Gier.
Ingrid Lausund, die dritte im Bunde, hat Stromberg in der Freien Szene Ravensburgs entdeckt und mit ihrem ersten Schauspieler, Oliver Bokern, zusammen an sein Haus engagiert. In (Noch) Ohne Titel wagt sie am Premierenwochende von allen wahrscheinlich am meisten. Sie wird ein Stück inszenieren, dessen Text sich in langen Improvisationen nach und nach erst findet. Bekannt ist bislang nur, dass irgendetwas zerbricht, einige sich küssen werden und dennoch ein heiler Moment aufscheinen soll. Die dritte Spielstätte des Schauspielhauses, das „Neue Cinema“ am Steindamm, hat sich bei den sommerlichen Previews als Spielstätte bereits bewährt und ist für derlei Wagnisse sicherlich der geeignete Ort.
Als letzter wird an allen drei Tagen jeweils um 23 Uhr der französische Choreograph Jérôme Bel die große Bühne betreten. Zwar sieht er bereits das Ende der Popkultur heraufziehen, will aber all die schönen Lieder nicht vergessen, die die Popgeschichte hervorgebracht hat. The Show must go on, so heißt sein neues Programm. Am Freitag liefert er damit auch das Stichwort für die große Party, die im Anschluss an die Vorstellung im ganzen Haus stattfinden wird. Kein Geringerer als Lokalgrösse DJ Koze wird sich zu vorgerückter Stunde an die Turntables stellen.
Premieren Gier, Haltestelle. Geister, (Noch) Ohne Titel: Freitag, Sonnabend, Sonntag jeweils 19 Uhr, The Show must go on: an denselben Tagen, jeweils 23 Uhr
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