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TurnenGenug der Tränen

Nach Jahren des Misserfolgs qualifiziert sich die Riege der deutschen Turnerinnen mit Platz zehn bei der WM in Stuttgart für Olympia. Die Rettung für eine darbende Disziplin?

Anja Brinker turnt bei der WM in Stuttgart am Boden Bild: dpa

Ganz am Ende, am späten Sonntagabend, als der WM-Qualifikationswettkampf beendet war, da durften die deutschen Turnerinnen noch einmal dahin, wo sie sich am wohlsten fühlen: auf die Matte. Der Hallensprecher gratulierte ihnen zu Platz 10 und den Olympiatickets, und die Frauen winkten begeistert ins Publikum. Dass sich die Ränge da schon zur Hälfte geleert hatten? Geschenkt. Die Turnerinnen standen im blauen Ambiente der Stuttgarter Schleyerhalle und bejubelten ihr Ergebnis wie ein Wunder.

Weil es nun schon 15 Jahre her ist, dass eine deutsche Frauenriege bei Olympischen Spielen an den Start gehen durfte, war noch später in den Katakomben der Halle schnell die Rede davon, dass dies ein historischer Tag sei. Ulla Koch, die deutsche Cheftrainerin, konnte damit spontan nichts anfangen und war irgendwie abwesend. Wolfgang Willam, der Sportdirektor des Deutschen Turner-Bundes (DTB), übernahm für sie. "Toll, dass es hier im eigenen Land passiert ist, jetzt haben wir Hoffnung, dass das Frauenturnen in Deutschland wieder zu der Anerkennung kommt, die es verdient hat", sagte Willam.

Platz 10 im Mannschaftswettkampf, mit Marie-Sophie Hindermann und Anja Brinker zwei Turnerinnen im Mehrkampffinale, zwei Gerätefinals (Hindermann am Stufenbarren, Oksana Tschusowitina am Sprung), besser könnte die erste Zwischenbilanz dieser Weltmeisterschaft nicht sein. Selbst Ulla Koch hatte sich am Tag danach wieder gefasst. Die Sport- und Kunstlehrerin aus Herkenrath konnte nun auch in Worte fassen, wie wichtig das Olympiaticket ist. "Damit haben wir erst mal unsere Stützpunkte gerettet und Trainerstellen gesichert", sagte sie.

Das Frauenturnen vegetiert als Förderstufe-4-Sportart (des DOSB) seit Jahren mehr oder weniger vor sich hin, am oder unterm Existenzminimum, und eigentlich haben die deutschen Frauen in Stuttgart wieder einmal um die Zukunft ihrer eigenen Sportart geturnt. "Für uns war es ein Glück, dass man die WM gerade in diesem Jahr ins Land geholt hat", sagt Ulla Koch, "da ist vielleicht doch das ein oder andere mehr möglich geworden." Jedenfalls hatte die Cheftrainerin weniger Probleme als ihre Vorgänger, ihr Konzept zu realisieren, das mehr psychologische Betreuung sowie eine Verstärkung der biomechanisch-wissenschaftlichen Unterstützung vorsah. Das Hauptverdienst sieht die Chefin freilich in den Stützpunkten Bergisch-Gladbach, Chemnitz und Stuttgart - und damit bei den Heimtrainern. "Wir haben die Turnerinnen nicht so sehr als Team vorbereitet, sondern eher individuell", sagt Ulla Koch. Eine Randnotiz: Streng betrachtet hatten die Deutschen nur höchstens 80 Prozent ihres Leistungsvermögens gebracht und sich dennoch für Olympia qualifiziert. Das spricht dafür, dass mit solider Grundlagenarbeit der Abstand zur internationalen Spitze verkleinert worden ist. Vor vier Jahren bei der WM in Anaheim hatte ein 100-Prozent-Wettkampf nur zu Platz 13 gereicht.

Das letzte Teilchen im Erfolgspuzzle: Pünktlich zur Heim-WM brachte das deutsche Frauenturnen eine Reihe von unbekümmerten Athletinnen hervor, die Starpotenzial haben und sich bisher in Stuttgart nichts von dem Druck anmerken ließen, der auf ihnen lastet. Die Tübingerin Marie-Sophie Hindermann zum Beispiel, die mit Anja Brinker (Herkenrath) das Hotelzimmer teilt und mit ihr auch das Mehrkampffinale erreichte. "Wir haben die Halle gerockt", sagte sie, womit der 16-Jährigen die Schlagzeilen sicher waren.

Genau das war es, was der Sportart so lange gefehlt hatte: selbstbewusste Jugendliche, die nicht nur blass in der Ecke sitzen und in Tränen ausbrechen, wenn sie mal vom Schwebebalken gestürzt sind. Vielleicht ist das der wichtigste Effekt der psychologischen Offensive, die Cheftrainerin Ulla Koch zusammen mit dem Kölner Sportpsychologen Werner Mickler gestartet hatte. Am Tag danach wurde ebenso deutlich, dass diese neue Turnerinnengeneration sehr genau weiß, was sie will: Gestern um neun traten alle wieder pünktlich zum Training an, ohne Kater, bereit für die nächsten Wettkämpfe. Ulla Koch, die Cheftrainerin hat das mit Zufriedenheit zur Kenntnis genommen und gelächelt: "Die Olympia-Vorbereitung hat heute begonnen."

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