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Turmbesuch Thilo Brunk arbeitet da, wo Hölderlin einst lebte. Der Blick aus dem Turm auf Tübingen und den Neckar verbindet den Studenten mit dem Dichter. Dabei fallen ihm noch mehr Gemeinsamkeiten aufWorte für mäandernde Gedanken

von Waltraud Schwab (Text) und Boris Schmalenberger (Fotos)

Zu Besuch bei dem Germanistikstudenten und Hölderlin-Fan Thilo Brunk, 25, im Hölderlinturm direkt am Neckar in Tübingen

Draußen: Hölderlin hat den Ort zu allen Jahreszeiten besungen: Der Mensch vergisst die Sorgen aus dem Geiste, / Der Frühling aber blüht, und prächtig ist das Meiste, / Das grüne Feld ist herrlich ausgebreitet, / Da glänzend schön der Bach hinuntergleitet. / Die Berge stehn bedecket mit den Bäumen, / Und herrlich ist die Luft in offnen Räumen, / Das weite Thal ist in der Welt gedehnet / Und Thurm und Haus an Hügeln angelehnet.“ Seine Unterschrift: „Mit Unterthänigkeit Scardanelli“. Wann er das Gedicht verfasst hat, ist unklar. Zeit, Ort und Identität – bei Hölderlin war alles im Fluss.

Drinnen: Ein halbrunder Raum, drei Fenster, zwei Stühle, vier Gedichte an der Wand. Hier wohnte Hölderlin 36 Jahre lang. Er war krank im Kopf. Was ihm fehlte, darüber streiten die Gelehrten. Der Turm und das Haus sind heute Museum. Die Besucher gucken in Glasvitrinen, bewundern den Blick aus Hölderlins Zimmer. Was für ein Glück: Verrückt, aber mit Aussicht.

Unsterblichkeit: Bis heute sind junge Leute, die nach Worten suchen für ihre mäandernden Gedanken, von Hölderlin fasziniert. Thilo Brunk ist so einer. Er führt durchs Museum, nutzt die Bibliothek – eineinhalb Meter ist die Frankfurter Gesamtausgabe Hölderlins. „Außer Duschen und Schlafen kann ich alles machen hier“, sagt Brunk.

Höderlin: Geboren 1770 in Lauffen am Neckar, gestorben 1843 in Tübingen. Ein wunderliches Kind, wird gesagt. Hölderlins Vater starb, als der Junge zwei Jahre alt war, sein Stiefvater starb, als Hölderlin neun war. Die Mutter wollte einen guten Beruf für den Sohn: Pfarrer. „Hölderlin interessierte sich aber mehr für die griechischen Götter und das Menschliche an ihnen“, erzählt Thilo Brunk auf der Führung durchs Museum. Was er an Hölderlin aber vor allem bewundert: dass er immer versuchte, sich als Dichter zu etablieren, und Mäzene hatte, Freunde, Hegel, Schiller. „Heute würde man doch schon für verrückt erklärt, wenn man zur Mutter sagte: Du, ich werde Lyriker.“

Thilo Brunk: Er wurde 1991 geboren, 221 Jahre nach Hölderlin. Als er fünf war, verließ sein Vater, ein Masseur, die Familie. Seine zwei älteren Brüder zogen aus, als er acht Jahre war. Wie Hölderlin kennt er den Verlust männlicher Bezugspersonen. „Meine Sehnsucht nach dem Vater war groß.“ Er sieht noch, wie er als Kind auf dem Balkon saß, auf den Vater wartend. Alle zwei Wochen kam der für einen Tag.

Parallelen: Nicht nur die Vaterlosigkeit teilen sie. „Wie Hölderlin mochte ich die Schule nicht. Nur dass er besser war.“ Und ständig umgezogen seien beide. „Hölderlin hat in seinen ersten 36 Jahren selten länger als zwei Jahre irgendwo gelebt“, sagt Brunk. Er selbst käme auch schon auf elf Umzüge. „Ich weiß, was es bedeutet, nie lange an einem Ort zu sein.“ Im Gegensatz jedoch zum schwäbelnden Hölderlin, der immer wieder nach Nürtingen ins Haus der Mutter und Schwester zurückkehrte, was Brunk wie ein Scheitern vorkommt, spüre er, Brunk, keinerlei lokale Verortung.

Glück: Hölderlin sei nicht nur unglücklich gewesen. „Er hat viel ausprobiert, reiste, war, als er jung war, ein Fan der Französischen Revolution.“ Auch geliebt habe er. Er soll als Hauslehrer bei der Schriftstellerin Charlotte von Kalb ein Kind mit einer Angestellten gehabt haben. Homoerotisches mit Isaac von Sinclair, der zeitlebens zu Hölderlin hielt, wird zudem vermutet. Was Brunk aber am meisten beeindruckt: dass der Tod von Susette Gontard, Hölderlins großer Liebe, eine mit einem oft abwesenden Bankier verheiratete Frau, deren Sohn er unterrichtete, den Wendepunkt in seinem Leben darstellte und dass er spürte, dass nun die Umnachtung größer wird. „Er war ein Genie, das damit zu kämpfen hatte, dass er an etwas litt. Er war verrückt, bevor er verrückt war.“

Lyrik: Brunk zeigt sein Lieblingsgedicht, „Hälfte des Lebens“, das Hölderlin kurz nach Susette Gontards Tod schrieb. Es hängt im Museum. Diese drei Zeilen kommen darin vor: „Weh mir, wo nehm’ich, wenn / Es Winter ist, die Blumen, und wo / den Sonnenschein, / Und Schatten der Erde?“ – Als wusste er, was nun kommt, meint Brunk. Brunk mag die späten, weil eingängigeren, Gedichte von Hölderlin lieber. Den „Hyperion“, Hölderlins großes Epos, geschrieben in altgriechischen Versmaßen, habe er erst mal nicht verstanden. „Den muss man studieren.“ Er selbst habe zwar auch mal Gedichte geschrieben, „aber ich hab es nicht so mit Lyrik, wie ich es auch nicht mit Mathe hab“. Er mag Prosa, plädiert aber für einen erweiterten Literaturbegriff. „Das Skript einer Fernsehserie ist auch Text.“

Im Turm: Dass Hölderin bei Familie Zimmer im Turm leben konnte, war ein Glücksfall. Dr. Autenrieth, der Arzt, der Hölderlin behandelte, war vom Anstaltskonzept nicht überzeugt. Er lernte Zimmer, der Zimmermann war, kennen, als der Möbel für die Anstalt fertigte. Zimmer war ein Fan von Hölderlins Lyrik und er hatte kurz zuvor das Turmhaus gekauft. „Onkel Hölder“ nannten Zimmers Kinder den Dichter.

Im Museumskeller: Dort lagert die Stahlbüste, die die Nazis von Hölderlin anfertigen ließen: ein Jüngling, lange Haare, fast mädchenhaft, aber mit entschlossenem Mund. Brunk zeigt sie. Hölderlin wurde von vielen vereinnahmt. Also verehrt? „Weil die Schönheit seiner Worte für jeden Utopie sein können.“

Was denkt Brunk? „Träume von utopischen Zuständen, die sind so notwendig.“ Leider sei er Realist. Er sieht nur das Gegenteil.

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