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Turbulenzen in der Mittelschicht„Schon 1930 gab es die Statuspanik“

Der Soziologe und Mittelschichts-Experte Berthold Vogel über Absturzängste und die „solidarische Mitte“ als historischen Ausnahmefall.

Generell orientiert sich die Mitte immer nach oben. Bild: cydonna / photocase.com
Antonia Herrscher
Interview von Antonia Herrscher

taz: Herr Vogel, ist der in den Medien häufig verwendete Begriff „sozial schwach“ diffamierend?

Berthold Vogel: Ja, und auch in der Armutsforschung sind unreflektierte Etikettierungen ein Problem. Mit Begriffen wie „Überflüssige“ oder „sozial schwach“ wird ja auch Politik gemacht.

Haben Sie das Gefühl, dass zurzeit eher die Mittelschicht sozial schwächelt, indem sie Ressentiments gegenüber der Unterschicht pflegt?

Die „Mittelschicht“ ist als soziales Feld ein turbulenter Raum, mit hoher sozialer Mobilität. Geradezu dafür prädestiniert, sich bestimmter Ressentiments zu bedienen und durch Positionen abzuheben. Die solidarische Mitte ist eher ein historischer Ausnahmefall, der eintritt, wenn es relativ viel zu verteilen und einen Konsens gibt, wie gesellschaftliche Reichtümer übertragen werden können. Der deutsche Soziologe Theodor Geiger sprach schon in den 1930er-Jahren über die „Statuspanik“ in der Mitte der Gesellschaft.

Heißt das, der Mittelschicht geht es weniger um die Überwindung von gesellschaftlicher Armut als um die Sicherung des bestehenden Wohlstands?

Generell orientiert sich die Mitte immer nach oben. Man hat eine bestimmte Vorstellung von Reichtum, gutem Leben und guter Arbeit. Da ist wenig solidarisches Augenmerk auf diejenigen, die zurückbleiben. Obwohl es natürlich auch viel Potenzial für Solidarität gibt …

die sich aber vor allem auf die eigene soziale Schicht konzentriert.

Trotz allem gibt es ein Bewusstsein dafür, dass man von anderen gesellschaftlich abhängig ist. Um soziales Bewusstsein auszubilden, braucht es aber wohlfahrtsstaatliche Rahmenbedingungen. Solidarität entsteht nicht nur aus Güte und Barmherzigkeit einzelner.

Bild: HIS Hamburg/Bodo Dretzke
Im Interview: Berthold Vogel

Mittelschichtsexperte, ist Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts in Göttingen und Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung.

Neben der Bereitschaft, sich für andere zu engagieren, kann man gerade in den Debatten um Bildungspolitik die permanente Wachsamkeit beobachten, die eigene und familiäre Position zu wahren.

Ist denn die Mitte nicht auch ganz real von Armut bedroht?

Ja, weil sich die Rahmenbedingungen verändert und prekäre Beschäftigungsverhältnisse längst klassische Mittelschichtberufe erreicht haben. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu sprach von den „intern Ausgegrenzten“, die zwar in das Bildungssystem eingebunden sind, deren Ausbildungsgrade jedoch durch die Aufwärtsentwicklung an Wert verlieren. Soziale Abstände vergrößern sich. Von den wegfallenden Statuszusagen wie Rente und Bildung hat die Mitte immer am meisten profitiert.

Es gibt auch einen Ruf nach mehr Staatlichkeit. Ist das ein Zeichen für das Erstarken gesamtgesellschaftlicher Solidarität?

Das wahrscheinlich am wenigsten. Da wird eher die Verteilungsfrage gestellt. Die, die sich oben befinden, haben sich weitgehend aus der Finanzierung des Staates verabschiedet. Wer unten ist, wird nur als Kostgänger wahr genommen. So wachsen Unbehagen und Ressentiments gegenüber randständigen Gruppen. Zugleich schwinden staatliche Ressourcen, solchen Entwicklungen entgegenzusteuern.

Hat der Staat überhaupt noch Möglichkeiten, ein solidarisches System zu schützen, oder hat sich das Modell überlebt?

Wahrscheinlich. Aber „Staat“ hört sich immer nach einer starken zentralen Einheit an, die es so nie gegeben hat. Deutschlands Stärke liegt in den vielgliedrigen Strukturen der Städte und Gemeinden.

Was ist mit Steuererhöhungen? Die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit ist auch eine steuerpolitische Frage.

Die ist natürlich unbeliebt. Es gibt ja auch sehr viel privaten Reichtum. Diese Wohlstandskonflikte rücken die Debatte um Verteilungsgerechtigkeit in die Mitte. Bestimmte Redeweisen und Modelle transportieren die Vorstellung davon, wie Gesellschaft organisiert werden sollte. Neben der Teilhabe an öffentlichen Leistungen gehören dazu Chancengerechtigkeit und ein gewisses Maß an Sicherheit.

Wäre dann nicht dafür Sorge zu tragen, dass Druck und Unsicherheit in der Unterschicht nicht noch verstärkt werden?

Absolut. Es gibt ja auch die diffamierende Rede über soziale Sicherheit, dass die Gesellschaft zu bequem, zu träge wird. Doch Sicherheit ist Voraussetzung für so etwas wie eine freie Gesellschaft, in der nicht das Recht des Stärkeren herrscht.

In Athen wird gerade die Horrorvorstellung real, dass rechtsradikale Gruppen, die man ganz abstrakt als „zivilgesellschaftliche Akteure“ bezeichnen könnte, in die Bereiche hineingehen, in denen sich vorher der Staat mit seinen Sicherheitszusagen befunden hat.

Bürgerwehren, die bestimmte soziale Funktionen übernehmen. Der kritische Punkt ist: Wie gewährleistet man soziale Sicherheit und wer ist dafür verantwortlich?

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19 Kommentare

 / 
  • PG
    Paul Gerhardt

    @EuroTanic:

    Vielleicht wollen die Steuerhinterzieher auch nicht mehr in DIESES System zahlen. Wenn ich könnte, würde ich auch hinterziehen.

  • U
    Utilitarismus

    Der 2WK war auch ein Wirtschaftskrieg.

    Gerade die "soziale Mobilität" wurde seitens SPD, Gewerkschaft gänzlich nicht verstanden.

    Die dachten dabei an VW, Fahrzeuge und Wander-/Zeitarbeiter, nicht an den sozialen Aufstieg innerhalb der Firmen.

     

    Im Artikel1 Absatz 1 im Grundgesetz heißt es "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

    Wie sieht diese Würde für degradierte Bittsteller die mit 4.50 Euro/Std. leben müssen wenn gleichzeitig 5 Bewerbungen im Monat geschrieben werden sollen, aus?

    Geht das GG so mit Erwachsenen um?

    Es gibt sie aktuell, die Zwangsarbeit mit oder ohne Arbeitshaus.

    Nach dem Arbeitshaus kamen die Arbeitslager der Nazis direkt neben den Fabriken.

    Und nun ist das ganze offen öffentlich. Der Weg wird noch weiter ausgebaut, die heutige DESTATIS Meldung über die Anzahl der Angestellten zeigt die Entwicklung. Das Geld reicht nie, trotz massiven Abbau im Staatswesen.

    "Gleichzeitig nutzte man die Arbeitskraft dieser Menschen aus, indem sie sich der manufakturellen Produktionsweise, die unter anderem die Haupteinnahme des absolutistischen Staates bildete, zur Verfügung stellen mussten."

    http://de.wikipedia.org/wiki/Arbeitshaus

     

    In den 70-90 Jahren konnte ein Alleinverdiener eine Familie ernähren. Gastarbeiter wurden integriert. Bergbauarbeiter in der industriellen Revolution konnten eine 10-köpfige Familie ernähren.

    Die Gemeinschaft hat ein gigantisches Geldpolster aufgebaut, an denen sich Politiker nach gut dünken sachfremd bedienen. Teufelstabelle.

     

    Solange Nestle und andere Firmen wie der Vatikan die Immaterialisierung volkswirtschaftlicher Güter, damit Gemeinschaft überhaupt Überlebensfähig ist(Wasser, Strom etc.), umsetzen können, solange wird die Situation verschärft.

    Gesellschaften korrigieren öfters durch invasive Maßnahmen eine fehlgeleitete Politik.

    Der gedachte Staat ist doch seit langem abwesend.

    Es geht nur um die Steuerhoheit und Geldabschöpfung.

  • E
    EuroTanic

    @Paul Gerhardt:

    Sie spreche hier wohl vom "Sozialhilfemissbrauch"?

    Auf jeden Euro Sozialhilfemissbrauch kommen 1.400 Euro Steuerhinterziehung in der BRD. Ich glaube, sie sind ein Opfer der Regierungspropaganda?

  • E
    EuroTanic

    "Hat der Staat überhaupt noch Möglichkeiten, ein solidarisches System zu schützen, oder hat sich das Modell überlebt?

     

    Wo haben wir denn bitte ein Solidarsystem? Solidarität kann immer nur freiwillig sein. Alles andere ist Zwang, Diebstahl, Despotie. Steuern sind grundsätzlich Diebstahl an der Wertschöpfung der Fleissigen.

    Wie kann es solidarisch sein, dass ein Facharbeiter einen Grossteil seines Lohnes an Steuern abgeben muss, das der Staat, der ja selber überhaupt nichts an Werten schafft, an z.B. Grossfirmen als Subventionen weitergibt? Ich gebe gerne Geld an Sachwache und Kranke, abr immer nur freiwillig. Das ist menschliches MItgefühl und Solidarität.

  • D
    dieter

    @lawandorder vielen Dank!

    @Kapitalistenschwein du zahlst Einkommensteuer und glaubst du wärst ein Kapitalistenschwein?

    Als Kapitalistenschwein geht man nicht arbeiten, lebt vom Erbe und zahlt keine Vermögenssteuer.

    Du bist doch gar nicht gemeint, aber in Gedanken bist du Oberschicht was?

  • J
    Jiri

    ich würde noch zu Bedenken geben, dass ein großer Teil der gut verdienenden Mittelschicht sich nicht an der Finanzierung der Sozialsysteme beteiligt:

    -Beamte

    -gut verdienende Freiberufler und Selbständige

    -Angestellte, die die Beitragsbemessungsgrenzen überschreiten.

     

    Ich fände es sehr sinnvoll, wenn dieser Teil der arbeitenden Bevölkerung auch einen gerechten Teil dazu beiträgt

  • S
    Schelm

    Wir wissen alle, wer 1933 an die Macht kam...

  • L
    lowandorder

    "Hat der Staat überhaupt noch Möglichkeiten, ein solidarisches System zu schützen, oder hat sich das Modell überlebt?

    Wahrscheinlich.…"

     

    Der Mann ist Soziologe, ok - und kein Verfassungsrechtler.

    Ja - aber es kann doch verlangt werden, daß die grundlegenden Paramater

    des Grundgesetzes, die unsere Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes

    verfassen, gewußt und bedacht sind.

     

    Und danach ist Frage wie Antwort out of law!

    Menschenwürde, demokratischer sozialer Rechtsstaat, Gleichheit der Lebensverhältnisse, das magische Fünfeck usw

    - schlicht : der Staat, auf welchen Ebenen auch immer hat keine Wahl!

    Er ist verpflichtet, diesen Verfassungsanfoderungen Gestalt zu verleihen.

    Und sei es im Länderfinanzausgleich. Wo die grassierende Dümmlichkeit

    nicht nur erwartbar einen Oettinger, sondern selbst einen Kretschmann erfaßt.

     

    So denn:

    " Die, die sich oben befinden, haben sich weitgehend aus der

    Finanzierung des Staates verabschiedet.…"

    Ja - und damit ist der Auftrag des Staates klar: sie sind wieder in die sozialstaatlichen Anforderungen einzubinden; z.B. durch effektive Steuererhöhungen.

     

    Wie sowas auch aussehen kann, hat Wolfgang Nescovic vorgemacht:

    Geben Banken Kredite an ohnehin überschuldete, rückzahlungsunfähige Menschen,

    geht der Bankanspruch dank des Sozialstaatsprizips ins Leere.

    Und - hält! So geht das. Zu recht.

     

    Anders als noch in den 70/80ern fällt auf, daß sich keine Verfassungsrechtler

    mehr in der Tradition eines Hermann Heller ( " was gibt es materielleres als das Haushaltsgesetz"), des Kronjuristen der SPD und Gegenspieler von Carl Schmitt,

    eines Konrad Hesse, Helmuth Ridder oder Peter Häberle ( "Leistungsstaat und Grundrechte") zu Wort meldet und die Verfassungsaufträge einfordert.

     

    Denn - plan as plan can be: Freiheit und Gleichheit ist ohne einen funktionierenden Sozialstaat nicht zu haben.

    DIE Errungenschaft Europas - Pierre Bourdieu - , ihr gilt es wieder ihren Platz zu verschaffen.

    Wer sich wegduckt, verfehlt das Grundgesetz, unsere Verfassung!

  • PG
    Paul Gerhardt

    Logisch, dass Mittelschicht keine Lust hat, die Unterschicht weiter zu finanzieren.

    Jene ist nämlich nicht arm und abgehängt, die hängt sich selber ab. Wer ohne Schulababschluss und Ausbildung zig Kinder in die Welt setzt, damit der Kelch der Arbeit an einem vorbei geht, kann nicht mit der bedingungslosen Solidarität der Restbevölkerung rechnen. Die muss zwar zahlen, aber eben nur mit Widerwillen. Dabei würde ich meine Kohle lieber in meine eigenen Kinder investieren, als sie bei der Unterschicht zu versenken.

  • V
    vic

    Die sogenannte Mitte zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass sie stets nach unten tritt- nie nach oben.

    Auch nett:

    http://www.zdf.de/ZDFmediathek/beitrag/video/1800532/Die-Mitte-sei-mit-euch%2521

  • J
    John

    @and

     

    es heißt doch auch "DIE Mitte" und nicht "DER Mitte". Fühlen wir uns jetzt etwas weniger diskriminiert?

  • K
    KayKippmann

    @and: Gähn...

     

    @taz: Sehr kompaktes Interview. Den Punkt, den ich nicht greifen kann: Keine Lösung in Sicht?

     

    Außerdem fehlt mir ein Hinweis auf das Arbeitsethos der Mittelschicht. Das kollidiert, Verteilung hin oder her, nämlich durchaus mit einigen Gruppen der "Unterschicht", die eher Bequemlichkeit als Fleiß buchstabieren können.

  • P
    pgs

    Zum Kommentar von and: Sind auf dem Foto nur Männer zu sehen?

  • K
    Kapitalistenschwein

    "Da wird eher die Verteilungsfrage gestellt. Die, die sich oben befinden, haben sich weitgehend aus der Finanzierung des Staates verabschiedet."

    Das sehen die 10%, die 50% der Einkommenssteuer zahlen, sicherlich anders.

  • H
    Holger

    Wo buddelt die taz nur immer diese grandiosen "Experten" aus? Schon bevor ich das echt sehr schwache Interview las, wusste ich genau, was für einen Unfug von der ach so unsolidarischen Mitte dieser Held jetzt absondern würde. Bin ich also jetzt so unglaublich klug oder ist das Interview zu 100% vorhersehbar? Soll so etwas Journalismus sein oder auch nur irgendwie als erhellend gelten? Informationsgehalt unter Null, der "Experte" ergeht sich in stumpfsinnigen, längst auch von linken Wissenschaftlern widerlegten Uralt-Thesen aus den miefigen 70ern.

     

    Die taz erinnert mich immer mehr an den Haarschnitt von Volker Bouffier - egal, was die Zeiten bringen, Bouffiers Frisur und der Journalismus in der taz ändern sich nie, sie bleiben immer gleich spießig und rückwärtsgewandt. Schade.

  • F
    FrankF

    @and

     

    die rechte ist eine frau...

    ...wenn auch nicht eine besonders weibliche.

  • H
    hdn

    Angesichts der Ereignisse von 1933 beruhigt es ungemein, dass man es damals schon als Statuspanik verharmlost hat, wenn sich ein demokratischer Staat in den Augen der breiten Mehrheit seiner Bürger als unfähig zu erweisen scheint, für den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft zu sorgen.

  • FB
    Felix Berthold

    "In Athen wird gerade die Horrorvorstellung real, dass rechtsradikale Gruppen, die man ganz abstrakt als „zivilgesellschaftliche Akteure“ bezeichnen könnte, in die Bereiche hineingehen, in denen sich vorher der Staat mit seinen Sicherheitszusagen befunden hat. "

     

    Wieso Athen? Ein Blick in den Osten Deutschlands genügt!

  • A
    and

    zum foto mit untertitel:

    "Generell orientiert sich die Mitte immer nach oben. "

     

    und generell ist die mitte immer rein männlich? auch in der taz!?

     

    für alle, die es noch nicht mitbekommen haben: die hälfte der mitte ist weiblich.