Türkischer Oppositioneller verhaftet: Wie beleidigt man die „Hohe Wahlbehörde“?
Dem Erdogan-Kritiker und Lokalpolitiker Nasuh Mahruki wird vorgeworfen, er habe die Wahlbehörde beleidigt. Was das bedeuten soll, weiß Mahruki selbst nicht.
Die Presseabteilung der Istanbuler Generalstaatsanwaltschaft wirft ihm die Verbreitung von Falschnachrichten und die dadurch erfolgte Beleidigung der zentralen Wahlbehörde vor. Er soll auf X eine Nachricht über die mögliche Nutzung elektronischer Wahlmaschinen falsch verbreitet und damit auch die Integrität der Wahlbehörde in Zweifel gezogen haben. Vor dem Haftrichter sagte Mahruki, er verstehe nicht, was eigentlich der Vorwurf sein solle. Die fraglichen Posts seien nicht von ihm, er hat sie nur weitergeleitet, und er sehe auch nicht, was an diesen Posts falsch sei.
Mahruki ist eine der bekanntesten Personen der türkischen Zivilgesellschaft. Zunächst wurde er als Bergsteiger berühmt. Er war der erste Türke, der in den 90er Jahren auf den Mount Everest stieg. Im Jahr 1995 gründete er mit einigen anderen Bergsteigern eine Organisation für die Suche und Rettung von Bergsteigern in Not, AKUT.
Die Organisation beschränkte sich allerdings nicht auf Bergrettung sondern trainierte auch für die Rettung bei Erdbeben. Bekannt und berühmt wurde sie dann nach dem verheerenden Erdbeben 1999 in Izmit, unweit von Istanbul, am östlichen Ende des Marmarameeres. AKUT war weit vor allen staatlichen Organisationen vor Ort und rettete hunderte Leben. Noch im selben Jahr waren sie auch bei einem Erdbeben bei Athen vor Ort, was damals erheblich zur Entspannung zwischen der Türkei und Griechenland beitrug. Seitdem war AKUT bei etlichen Erdbebenkatastrophen in der Türkei und außerhalb des Landes im Einsatz.
Vorwurf der Beleidigung als Mittel gegen Kritiker
Mahruki stieg 2016 aus dem aktiven Rettungsdienst aus und widmete sich seitdem der Lokalpolitik. Bei den Kommunalwahlen im März dieses Jahres kandidierte er als Unabhängiger in Besiktas in Istanbul und bekam immerhin 13 Prozent. Er ist ein bekannter säkularer Kritiker von Erdogan, der in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften regelmäßig publiziert.
Der Vorwurf der Beleidigung der Nationalen Wahlbehörde wird immer mehr zu einem probaten Mittel, Kritiker der Regierung Erdogan mundtot zu machen. Prominentester Fall bislang ist der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu. Ihm warf der damalige Innenminister schob vor zwei Jahren die Beleidigung der Hohen Wahlbehörde vor. In einem offensichtlich politisch motivierten Prozess wurde Imamoglu, der damals eigentlich als Präsidentschaftskandidat der Opposition antreten sollte, wenige Monate vor den Wahlen im Mai 2023 wegen Beleidigung der Wahlbehörde in erster Instanz verurteilt. Sollte er letztinstanzlich verurteilt werden, drohen ihm mehrere Jahre Gefängnis und Politikverbot.
Gegen Mahruki ist bislang noch keine offizielle Anklage bekannt geworden.
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