■ Türkische und kurdische Sozialdemokraten schreiben an den SPD-Vorsitzenden Rudolf Scharping: „Böswillige Äußerungen“
Ende letzten Monats, wenige Tage nach den Auseinandersetzungen um die verbotenen kurdischen Newroz-Feste, äußerte sich der SPD-Vorsitzende und Kanzlerkandidat der Partei, Rudolf Scharping, zur Politik der Bundesregierung, Europäischen Union und Nato gegenüber der Türkei. Unter anderem kritisierte Scharping, daß „die Bundesregierung, EU und Nato dem Völkermord an den Kurden in der Türkei fast untätig zugesehen haben“.
In ungewöhnlich scharfer Form hielt der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Helmut Schäfer, Scharping darauf vor, er habe von Außenpolitik und speziell der Lage in der Türkei keine Ahnung. „Herrn Scharpings Unterstellung, die Türkei begehe Völkermord an den Kurden“, sei, so Schäfer, „eine schlimme Entgleisung der Tatsachen“. Wer sich anschicke, als Kanzlerkandidat auch Außenpolitik anzusprechen, müsse sich sorgfältig informieren, bevor er „leichtfertige und falsche Behauptungen“ in die Welt setze. Mit demselben Tenor, nur erheblich schriller, griff das türkische Massenblatt „Hürriyet“ am 7. April die Äußerungen Scharpings auf („Schlimmer als Schirinowski“) und berichtet von Protesten und Austrittsdrohungen von Sozialdemokraten türkischer Abstammung. Anlaß war der unten dokumentierte Brief der stellvertretenden Vorsitzenden der türkischen Volksvereine in Deutschland, der türkischen Sympathisantenvereinigung der SPD. Auf diesen Brief reagierten jetzt SPD-Mitglieder kurdischer Abstammung.
Sehr geehrter Herr Scharping, lieber Rudolf
Die öffentliche Äußerung, die Du mit dem Titel „Vernichtung der Kurden in der Türkei“ Ende März gemacht hast, hat die hier lebenden Türken und die Parteimitglieder enttäuscht. Vor allem lehnen wir Deine Beschuldigungen mit Entschiedenheit ab und bitten Dich, in Zukunft nicht solch böswillige Äußerungen zu machen. Wie gewünscht, wirst Du dieses Jahr wahrscheinlich Bundeskanzler. Bist Du Dir bewußt, daß solch gedankenlose und böswillige Äußerungen zu politischen Skandalen führen? Kannst Du Dir vorstellen, daß solch undiplomatische Beschuldigungen der Bundesrepublik Deutschland in der Innen- und Außenpolitik Schaden zufügen werden?
Daß Du über die Probleme in der Türkei so wenig weißt, hat uns gewundert.
In der Tat solltest Du wissen, daß so eine Äußerung, die unbedacht gemacht wurde, eine gute Grundlage für die Propaganda der faschistischen Kräfte in diesem Lande ist. Hier lebende Türken und die Deutschen, die über das Thema besser informiert sind, empfinden Deine Beschuldigungen als „verletzend, erniedrigend und beleidigend“. Unserer Meinung nach muß man mit der Bedeutung des Wortes „Vernichtung“ sehr vorsichtig umgehen.
Das Gedenken an die Opfer der Vernichtung in diesem Lande, benötigt von einem Sozialdemokraten, und vor allem von dem Vorsitzenden der deutschen Sozialdemokraten, eine besondere Umsicht. Die seit Jahren in der Türkei mit unvorstellbaren Methoden gegen den Staat kämpfende Terrororganisation stellt ihren Kampf politisch als einen für die Menschen, also für die Kurden, dar. Hiermit wollen wir Dir mitteilen, daß Du diesen Menschen sehr geschadet hast.
Die wichtigste Aufgabe eines Staates ist der Schutz seiner Bevölkerung und seines Territoriums. Was der türkische Staat gegen die PKK macht, ist nichts anderes als dieses. In einem Land, in dem ein Drittel der Abgeordneten Kurden sind und diese in die oberen Ämter aufsteigen und sogar in diesem Land Staatspräsident werden können, kann nicht von Vernichtung oder gar Segregation die Rede sein. Wir sind der Meinung, daß diese Frage anders behandelt werden muß. Die voreiligen Beschuldigungen entsprechen nicht den Tatsachen und bringen keinem Vorteile.
Zerin Kökdemir, Stellvertreterin
des Vorsitzenden der Föderation
der Volksvereine der türkischen
Sozialdemokraten, Ethem Ete, eu-
ropäischer Berater der türkischen
Sozialdemokratischen Partei
Sehr geehrter Herr Scharping,
Was uns auffällt, ist die Beschränktheit der Pseudo-Genossen aus der Türkei, mit der jeder als kritisch empfundenen Äußerung gegenüber der türkischen Kurdenpolitik der Vorwurf der Unwissenheit und Nichtinformiertheit gemacht wird. Die gleiche Haltung spricht aus der Umschreibung der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) als einer Terrororganisation, die mit „unvorstellbaren Methoden“ die Einheit und Integrität der Türkei in Frage stelle. Wir sehen darin das Resultat von nahezu 70 Jahren kemalistischer Erziehung und Gehirnwäsche, die so weit geht, daß – obwohl sich die Autoren der Kritik darauf berufen, Sozialdemokraten zu sein – die ununterbrochene Folge von militärischer und politischer Repression, von völkermordartigen Verbrechen (so die Tötung von rund einer halben Million Kurden seit 1923), von Verbannung (sürgün, Zwangsumsiedlung, Dorfzerstörung, Unterentwicklung, Ausbeutung der Kurden durch den türkischen Staat seit seiner Konstituierung völlig beiseite gewischt wird bzw. aus dem Gedächtnis der Genossen getilgt worden zu sein scheint. Alle diese Verbrechen wurden in einer Zeit begangen, in der fast immer Sozialdemokraten (bzw. eine Partei, die sich scheinheilig dieses Etikett umgehängt hat) an der Macht waren, und zu Zeiten, in denen noch keine sogenannte „Terrororganisation“ der Kurden und keine PKK existierte, sondern sich alle politisch relevanten Kräfte der Kurden immer wieder um eine friedliche, politische Lösung der Frage bemühten, immer im Vertrauen auf die ursprünglichen Versprechungen des Republikgründers Mustafa Kemal „Atatürk“, ihnen als Gegenleistung für ihre aktive Unterstützung im „Befreiungskampf der Türkei gegen die imperialistischen Mächte“ (der in der Gründung der Republik mündete) ein faires Maß an Autonomie und Mitbestimmung zu gewähren.
Außerdem sollte es den „türkischen Genossen“ mittlerweile klar sein, daß ein Kurde nur dann im türkischen Parlament als Abgeordneter bleiben kann oder in die oberen Ämter aufsteigen kann, wenn er seine nationale Identität verleugnet. Ansonsten wird er als Terrorist oder Separatist bezeichnet.
Wenn die türkischen Genossen jetzt damit drohen, sie würden die Partei verlassen bzw. ihr die Sympathie kündigen, weil sie angeblich friedfertige Lösungen vorschlagen, dann sollte man sie nicht daran hindern. Dies wäre sicherlich ein großer Gewinn für die Demokraten in Deutschland – und für eine demokratische Entwicklung in der Türkei und in Kurdistan allemal.
Rojhat Weys Amedi für einen
sozialdemokratischen kurdischen
Freundeskreis
Bonn, den 10. April 1994
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