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Türkische OppositionsparteiErnsthafte Konkurrenz für Erdogan

Die türkische Oppositionspartei CHP wählt Kemal Kilicdaroglu zu ihrem neuen Vorsitzenden. Mit ihm will die CHP von der Partei des Staates wieder zu einer Partei der Leute werden.

Weckt bereits jetzt enorme Hoffnungen: Oppositionsvorsitzender Kemal Kilicdaroglu. Bild: ap

ISTANBUL taz | Seit letztem Samstag hat die Türkei wieder eine ernst zu nehmende Oppositionspartei. Mit überwältigender Mehrheit wurde auf dem Parteitag der CHP Kemal Kilicdaroglu zum neuen Vorsitzenden gewählt. Der 61-Jährige löst Deniz Baykal ab, der zuvor 18 Jahre lang die Partei eisern im Griff hatte. Wegen eines Sexvideos, das ihn mit einer von ihm protegierten CHP-Abgeordneten zeigte, musste Baykal zurücktreten.

Für die Partei wirkte der Rücktritt Baykals wie ein Befreiungsschlag. Kaum hatte Kilicdaroglu seine Kandidatur angekündigt, wurde er von begeisterter Zustimmung beinah überrollt. In seiner Antrittsrede auf dem Parteitag kündigte Kilicdaroglu an, dass die CHP wieder mehr die klassischen sozialdemokratischen Themen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen werde.

Während Baykals Politik auf die Polarisierung zwischen Laizismus und Islam setzte, sprach Kilicdaroglu von den verunglückten Bergleuten, die Opfer der miserablen Sicherheitsvorkehrungen unter Tage geworden sind. Er erinnerte an die Arbeitslosen und armen Bauern, die auch vor der Krise vom Aufschwung, wie ihn die AKP unter Premier Erdogan forciert hatte, nichts abbekamen. Statt über das Kopftuch als religiöses Symbol zu reden, beklagte er die Situation junger Kopftuchmädchen, die unter schlimmsten Bedingungen in der Textilindustrie arbeiten.

Mit Kilicdaroglu und der einen Tag später neu gewählten übrigen Parteiführung will die CHP von der Partei des Staates wieder zu einer Partei der Leute werden. Sein Auftritt weckt bereits jetzt enorme Hoffnungen. Während die regierungsnahen Zeitungen behaupten, bei der CHP würden sich höchstens der Stil, aber nicht die Inhalte ändern, reagieren die Gegner der AKP euphorisch auf den neuen Mann. "Kilicdaroglu", schrieb der Kolumnist Hasan Cemal, "steht in der Tradition von Bülent Ecevit. Er kann Wahlen gewinnen, was Baykal nie konnte."

Tatsächlich sind erste Umfragen für Kilicdaroglu ermutigend. Dümpelte die CHP unter Baykal um 20 Prozent, während Erdogan mit seiner AKP bei über 40 Prozent lag, gaben am Wochenende fast 34 Prozent in einer Umfrage an, sie würden den neuen Mann wählen. Für die AKP sanken die Werte auf 35 Prozent.

Der erste Test für Kilicdaroglu kommt im Herbst, wenn über die Verfassungsänderung abgestimmt wird. 2011 stehen Parlamentswahlen an. Solange Baykal die Opposition anführte, konnte Erdogan fast sicher sein, die nächsten Wahlen zu gewinnen. Jetzt steht seine Alleinherrschaft in Frage.

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10 Kommentare

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  • T
    Taceles

    Erdogan ist der wahre Sozialdemokrat in der Türkei. Nicht diese faschistischen Linksnationalisten. Ihr dürft nicht alles glauben, was die Merkel hörige Springer Presse von sich gibt. Beispiele:

    1. Kaufkraft der geringen Einkommen

    2. Inflation

    3. Investitionsrate

    4. Sozialdienste wie Krankenhäuser, etc.

     

    Das nenn ich harte Fakten und nicht das Larifari von euch. Übrigens, Erdogan bringt sich selber nie mit Islam in Verbindung oder seine Partei. Das machen immer schön brav die Merkels und Kilicdaroglus.

    P.S. der Vergleich mit Hitler ist wirklich eine Unverschämtheit. Mehr Ignoranz und Desinteresse gibt es wohl nicht zu toppen.

  • TA
    Türke @ Alle

    "Der erinnert mich an Hitler und sowas heisst ihr gut"

     

    Sorry aber Hitler war ein deutsches Phänomen, und wenn überhaupt sind Hitlers Taten den deutschen an zu lasten und wenn Sie unbedingt Hitler als Maßstab nehmen wollen dann wären deutsche Politiker -viele ehemalige und auch aktuelle- sowie israelische - Lieberman - da wohl treffender !

  • D
    Demokratie_über_alles

    @Jack Stern, ich bin grade sauer.

    Sorry Du nennst die AKP westlich orientiert, dann ist die Npd oder DVU türkenfreundlich.

    Sorry mal im Ernst, dieser Erdogan ist ein ganz gewitzer berechnender Mann.

    Der erinnert mich an Hitler und sowas heisst ihr gut.

  • MK
    Michael Kohlhaas

    die "klassischen sozialdemokratischen Themen", tut mir leid, aber habe mich so köstlich amüsiert. diese partei ist von der sozialdemokrtaie weit entfernt! wie etwa faschisten von der demokratie! wenn ich mich nicht irren sollte, ist sie sogar aus der sozialistischen internationale ausgeschlossen worden (ende 2009).

     

    erst heute hat ein hoher funktionär - ein ehemaliger mufti (hört, hört) - in anwesenheit kilicdaroglus aus dem koran rezitiert. also schön eifrig punkte sammeln, wie auch unter baykal. irgendwie muss auch das muslimische klientel mobilisiert werden. da ist (auch) kilicdaroglu jedes mittel recht. sobald erdogan auf diese weise seinen mund öffnet, gilt er als fundi oder ähnliches. die chp darf sich anscheinend so etwas erlauben.

    erdogan wird auch nicht mehr lange an der macht sein.

    und noch zu kilicdaroglu: einem starken aufwind folgt häufig ein starker abgang.

  • M
    Marti

    Die Hoffnung stirbt zuletzt!

  • K
    Kritiker

    Es ist irgendwie immer das gleiche, wenn deutsche Medien über Parteien im Ausland berichten: die politische Ausrichtung scheint völlig egal zu sein. Muß ich wohl erst recherchieren, um herauszufinden, um was für eine Partei es sich handelt.

  • V
    vic

    "...beklagte er die Situation junger Kopftuchmädchen..."

    Hat er das so gesagt? Ich glaube nicht.

    Nennen wir unsere jungen Frauen etwa Hosen- oder Arschgeweihmädchen?

  • JS
    Jack Stern

    kilicdaroglu wird auch von der erdogan feindlichen presse als ghandi forciert. ich frage mich warum, er war ja immer eine art waffe von baykal den mann gegen den feind als sauberman ins feld ziehen ließ. es wird sich nichts andern bei der chp und das ist denke ich für die türkei gut so, wenigsten für die nächsten 20 jahre, kann mir aber bei der niedreigen bildungrate der türken gut vorstellen das sie der chp nahen presse glauben und ihn doch wählen der leidtragende wäre vor allem die türkei selbst. mit seiner westlichen vorgehensweise war die akp sowieso zulange in einem land erfolgreich wie der türkei. die arbeitlosigkeit, demokratiedefizite, wirtschaftsleistung, forschung und außenpolitik wurden von den vorgängern nicht ernsthaft behandelt oder wegen persähnlichen interessen ausgeschlachtet. es ist nicht leicht gewesen für die akp noch schweriger war es für die elite in diesem land als ihre welt aus den fugen gerissen, der kuchen neu verteilt, wurde. nun wird sich zeigen ob die bemühungen die türkei zu einem unabhängigen und wirtschaftlich starken land zu machen von dauer sein wird oder die türkei doch zu seiner alten lethargie verfallen wird.

  • U
    uwe

    Alles ist besser als dieser rechtspopulistische Spinner Erdogan, die linken Parteien in der Türkei müssen gestärkt werden, nur bei einem gesunden Gleichgewicht kann Politik gemacht werden.

  • DD
    dirt diver

    Es ist gut, endlich eine Alternative zu zunehmend islamisch geprägten AKP in der Türkei zu haben. Vielleicht wird die Türkei unter einem mehr laizitsich geprägten Premier einen Weg nach Europa finden. Derzeit ist das nicht denkbar.