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Türkische Kumpel fordern Özals Kopf

Hunderttausend Bergarbeiter aus den seit Wochen bestreikten Minen von Zonguldak sind bei Temperaturen um den Gefrierpunkt zu Fuß auf dem Weg in die Hauptstadt Ankara/ In den Orten, die sie durchqueren, werden sie gefeiert  ■ Aus Mengen Ömer Erzeren

Seit Freitag morgen marschieren sie schon. Die Schwarzmeerstadt Zonguldak am Schwarzen Meer, wo die Bergarbeiter seit Ende November streiken, ist aufgebrochen: Hunderttausend Menschen. Zu Fuß will der Marsch die türkische Hauptstadt Ankara, die Hunderte Kilometer weit entfernt ist, erreichen. Vorbei an den sattgrünen Hügeln und Tälern der Schwarzmeerregion zieht eine kilometerlange Armee: Alte und Junge, Frauen und Männer. Die Parolen, die seit Wochen Tag für Tag in den Straßen und auf den Plätzen Zonguldaks gerufen werden, sind auf die Landstraße getragen worden. „Wir haben die Schiffe versenkt, es gibt keine Rückkehr mehr“, „Das Präsidentenpalais wird zum Grab für Özal“, „Nein zum Krieg“, „Der Krieg der Kumpel ist ein Krieg mit Özal“, „Es gibt den Tod, aber keine Rückkehr“.

Ursprünglich ging es nur um einen Tarifvertrag. Die Gewerkschaft der Minenarbeiter forderte höhere Löhne. Die umgerechnet 250 DM Monatslohn, die ein Bergarbeiter heute verdient, waren ein Hohn. Ein Kampf um Brot, um höhere Löhne. Doch Staatspräsident Turgut Özal, selbst einst Chef des mächtigen Arbeitgeberverbandes Metall, ging auf Konfrontationskurs. Er drohte, die Minen zu schließen. Die Lohnforderungen der Arbeiter nannte er absurd. Der Konflikt eskalierte. „Mit dieser Regierung schließen wir keinen Tarifvertrag mehr ab“, erklärt mir kurz und bündig einer der Hunderttausend, der Mitglied des Streikkomitees ist. „Die Regierung muß weg, es muß eine Übergangsregierung und Neuwahlen geben. Die Verfassung der Militärs, die arbeiterfeindlichen Streik- und Gewerkschaftsgesetze müssen weg. Dann gibt es einen Tarifabschluß.“

Längst geht es nicht mehr um Löhne. Denn die Regierung und der autokratisch regierende Staatspräsident Özal, eine Art ziviler Nachlaßverwalter der Militärdiktatur, stehen auf wackligen Füßen. Die Hysterie, mit der sich Özal für einen Krieg am Golf begeistert, um die innenpolitischen Konflikte loszuwerden, haben den allerletzen Rest von Sympathie weggefegt. Wenn die Bergarbeiter Ankara erreichen, werden weitere Hunderttausend auf die Straßen der Hauptstadt ihre Wut entladen. Die Bergarbeiter in Ankara sind das Ende: Das Ende für die Regierung, für Özal, für das Regime, das die Militärs nach dem Putsch 1980 der Gesellschaft oktroyierten. Die Kumpel wissen das ebenso wie Özal. Der Krieg hat begonnen.

Militär wurde in Alarmbereitschaft versetzt, der Urlaub für Polizisten gestrichen. Ankara gleicht einer militärischen Festung. Ursprünglich wollten die Kumpel per Bus nach Ankara fahren, um zu demonstrieren. Doch von den Tausenden Bussen, die die Gewerkschaft nach Zonguldak geordert hatte, erreichte keiner die Stadt. Volle Busse, mit denen Arbeiter nach Zonguldak kommen wollten, um mit den Kumpels weiter nach Ankara zu reisen, hatten keine Chance. Kurz nach Abfahrt gerieten sie in irgendeine der Absperrungen.

Die Abfahrt der Autobahn, die von Istanbul nach Izmit führt, in der Nacht von Donnerstag auf Freitag: „Hände hoch, an den Bus anlehnen.“ Um die Busse herum Polizei mit Maschinenpistolen im Anschlag. „Wir haben Befehl. Nicht einmal ein Vogel wird nach Zonguldak kommen“, spricht der Kommissar zu dem sozialdemokratischen Abgeordneten. Nur mit Parlamentarier- oder Presseausweis ist ein Durchkommen möglich.

Minutenlang starrt Gewerkschaftschef Semsi Denizer am Freitag morgen in seinem mit Abgeordneten und Journalisten überfüllten Zimmer auf die Fußballseite der Zeitung und spielt mit einem Rosenkranz. Er weiß, daß kein einziger Bus Zonguldak erreicht hat. Ihm wurde gedroht. Es geht um seinen Kopf. Keiner der Anwesenden traut sich, den übermüdeten und angespannten Denizer anzusprechen.

Minuten später setzt sich die Gewerkschaftsführung zum Bergarbeiterdenkmal in der Stadtmitte in Bewegung. Auf einen Wink hin setzen sich die wartenden Arbeiter auf das Pflaster, als Denizer seine knappen Sätze formuliert. „Sie haben unsere Busse beschlagnahmt. Also marschieren wir zu Fuß. Ich werde vorangehen.“ Zonguldak erbebt. „Vorsitzender, wir gehen mit dir bis in den Tod“, skandiert eine ganze Stadt.

Zwölf Stunden später sind die Hunderttausend im 16.000 Einwohner zählenden Devrek. Temperaturen unter null Grad. Verteilung der Schlafplätze vor der Stadtverwaltung. Die Solidarität nimmt ungewohnte Formen an. Brot, Käse, Oliven werden von Geschäftsleuten auf der Straße umsonst an die Kumpel verteilt. Im Durchschnitt nimmt jede Familie zehn bis 15 Bergarbeiterfamilien auf. Jeder irgendwie beheizte Raum ist an diesem Tag Schlafstätte der Demonstranten — Teehäuser, Restaurants, Hochzeitssalons, ja selbst Geschäfte. „Wir werden Devrek nicht vergessen“, skandieren die Kumpels, als sie am Samstag aus dem Städtchen ausziehen.

Wenige Stunden später eine Barrikade der Militärs. Dutzende Militärlaster. Eine Vorhut der Militärs, etwa 500 Mann: Gewehre, Maschinenpistolen, Wasserwerfer. Hunderte Frauen, darunter Ältere, die die Mütter der jungen Burschen sein könnten, haben die jungen Militärs in vorderster Reihe umlagert. „Wollt ihr mit uns etwa Krieg führen?“ Es kommt zu kleineren Handgreiflichkeiten. Frauen packen Soldaten an der Uniform. Den 17jährigen ist elend zumute. Einige weinen fast. Die Barrikade wird geräumt.

Der türkische Ministerpräsident Yildirim Akbulut hatte tags zuvor den Gewerkschaftsvorsitzenden Denizer aufgerufen, den Marsch abzublasen und mit „ein paar Freunden“ nach Ankara zu Gesprächen zu kommen. „Ich komme sowieso mit meinen Freunden“, lächelte Denizer, als er während des Fußmarsches den Aufruf im Radio hörte. Am Samstag erreicht ihn eine persönliche Bitte des Ministerpräsidenten. Der Ministerpräsident will bis nach Bolu, eine Dreiviertelstunde Autofahrt vom Marsch entfernt, kommen, um den Gewerkschaftsvorsitzenden zu treffen. Samstag 12.00 Uhr ist als Termin abgemacht. Wieder einer Militärbarrikade. „Bitte, Herr Gewerkschaftsvorsitzender, fahren sie doch mit mehreren Autos durch“, sagt der Befehlshaber der Militäreinheit in allerhöflichstem Ton zu Denizer an der Spitze des Zuges. Denizer wirft einen durchbohrenden, tötenden Blick auf den Offizier. „Die Barrikade muß weg. Ich bin sowieso nicht scharf darauf, den Ministerpräsidenten zu treffen. Ich bleibe hier.“ Minuten später räumen die Militärs die Absperrung. Denizer fährt zu dem Gespräch. Nicht mit seiner Arbeits- und Sozialministerin, sondern mit seinem Innenminister ist Akbulut nach Bolu gekommen. Am späten Samstag nachmittag wird das Gespräch abgebrochen. Der Ministerpräsident unterbreitet kein neues Lohnangebot. Statt dessen fordert er den Abbruch des Marsches. Sein Innenminister droht.

Samstag nacht übernachtet der Zug im 5.000 Einwohner zählenden Mengen. Nur die Frauen haben die Chance, einen Schlafplatz zu ergattern. Es herrscht Frost. Ringsum flammen Lagerfeuer der Bergarbeiter. Özal gießt Öl in Feuer. In den Abendnachrichten droht er wieder mit der Schließung der Minen. Eine Schlucht, zwölf Kilometer von Mengen entfernt, die die Kumpel von der zentralen Fernstraße Istanbul-Ankara trennt, wird auf den Krieg vorbereitet. 5.000 Soldaten sind an der Schlucht postiert. Mehrere zehntausend Soldaten sind als Verstärkung geschickt worden. Per Stacheldraht und riesigen Wassercontainern ist die Schlucht abgesperrt.

Sonntag morgen brechen die Minenarbeiter in Mengen auf. Bis zur Schlucht sind es Sonntag nachmittag noch sechs Kilomter. Die Bergarbeiter rufen: „Es gibt den Tod, aber keine Rückkehr.“

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