Türkische Frauenbibliothek: Chronistinnen der Frauengeschichte
Die Sammlung der Frauenbibliothek in Istanbul belegt, dass die Frauenbewegung in der Türkei weit älter ist als angenommen.
Die Frauenbibliothek (Kadın Eserleri Kütüphanesi) in Istanbul, erste und einzige Einrichtung dieser Art in der Türkei, wird 28. In einem Backsteinbau im Altstadtviertel Fener am Ufer des Goldenen Horns widerlegt die Frauenbibliothek mit historischen Beispielen den Irrtum, die Frauenbewegung in der Türkei sei in den 1980er Jahren entstanden.
In der Sammlung der Bibliothek finden sich Dokumente, die bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Zu den ältesten gehört etwa das 1872 erschienene Frauenmagazin Hanımlara Mahsus Gazete (Zeitung für Frauen). Ein weiteres Dokument von historischer Bedeutung ist der Pass von Safiye Hüseyin Elbi, die als ehrenamtliche Krankenschwester auf dem Dampfer Reşat Paşa tätig war, als er während des Ersten Weltkriegs an der Front bei Çanakkale/Gallipoli als Hospital diente.
Am 14. April 1990 öffnete die Bibliothek in dem historischen Bau in Fener mit 100 Büchern ihre Pforten für die Leser*innen. Die feministische Autorin, Aktivistin und Mitgründerin Şirin Tekeli schilderte 1990 in ihrer Eröffnungsrede die Beziehung der Bibliothek zur Frauenbewegung: „Die Bibliothek ist aus der Frauenbewegung heraus entstanden, mit der ideellen und finanziellen Unterstützung der Bewegung blühte sie auf. Die Bewegung speist die Bibliothek und die Bibliothek versorgt die Bewegung mit Wissen.“
Seit der Gründung trägt die Bibliothek chronologisch Schriften zu Themen wie Familie, Sexualität, unsichtbare Frauenarbeit oder Gewalt unter einem Dach zusammen und nimmt zugleich Dokumente und Geschehen von heute für die Zukunft auf. Der Bestand konnte in den vergangenen 28 Jahren erheblich erweitert werden, heute beherbergt sie 13.758 Bücher, 7.000 Artikel, 115.150 Zeitungsausschnitte und 14.480 Dokumente von Frauenorganisationen und –vereinen.
Die bewegendsten Quellen sind die Geschichten der Frauen
Die Bibliothek, gegründet von Jale Baysal, Aslı Davaz, Şirin Tekeli, Füsun Ertuğ Yaraş und Füsun Akatlı mit dem Ziel, „die Vergangenheit der Frauen besser kennenzulernen, das Wissen heutiger Forscher*innen konzentriert zugänglich zu machen und schriftliche Dokumente von heute für kommende Generationen zu bewahren“, ist ein Vorbild in Sachen demokratisch-partizipatorische Kommunalverwaltung. Die Räumlichkeiten wurden von der Istanbuler Stadtverwaltung zur Verfügung gestellt.
Bei ihrer Eröffnungsansprache am 14. April 1990 betonte Şirin Tekeli den Charakter der Bibliothek als Bürgerinneninitiative: „Unter dem Dach einer Stiftung zeichnen sechs Frauen verantwortlich für die Bürgerinitiative, damit handelt es sich um eine Bürgerinneninitiative. Die Istanbuler Stadtverwaltung unterstützt uns und hat uns dieses schöne Gebäude zugeteilt, damit hilft sie uns zu erkennen, wie dank der im Rahmen partizipatorischer Demokratie zustande gekommenen Kooperation von Bürger*innen und Kommunalverwaltung, einem recht neuen Phänomen, unser gesellschaftliches Leben Bereicherung erfahren kann.“
Mündliche Aufzeichnungen tragen für die Geschichte der Frauen besondere Bedeutung, weshalb die Kollektion auch eine solche Abteilung vorhält. Vorstandsmitglied Tülin Tankut beurteilt die Bedeutung der oral tradierten Geschichte der taz gegenüber wie folgt: „Die bewegendsten Quellen über Frauen sind zweifellos ihre eigenen Erzählungen, die nicht in der offiziellen Geschichtsschreibung stehen. Darum führen wir in der Bibliothek Arbeiten zur Dokumentation der mündlichen Geschichte durch.“
Die Geschichte des Frauenkampfes wird aufgezeichnet
Die im Archiv gesammelten Praktiken und Errungenschaften der Kämpfe der osmanischen Zeit, aus den Anfangsjahren der Republik und der jüngsten Geschichte bilden eine Quelle für das aktuelle Engagement der Frauen. „Unzweifelhaft trägt die Vermittlung von Erfahrungen zur Gestaltung des Kampfes der Frauen heute bei“, sagt Tankut. „Der Frauenkampf findet ja nicht in einer immer besser werdenden aufsteigenden Linie statt. Es gibt auch Rückschläge.“
Bislang wurden rund 400 Symposien, Vorträge und Workshops organisiert, die Bibliothek beschränkt sich also keineswegs nur auf die Schriftensammlung und ihre Öffnung für Leser*innen. Sie bringt wichtige Angelegenheiten der Frauenagenda aufs Tapet und fördert in ihren Workshops kollektive Produktion.
Um ihre Sammlung zu erweitern, wendet sich die Bibliothek weiter an Personen und Kreise mit der Bitte um ihre Archive. In den letzten Jahren spendeten immer mehr Menschen ihre Werke. Tankut hofft, dass immer mehr Leute ihr Archiv noch zu Lebzeiten der Einrichtung überlassen: „Je mehr Menschen die Bibliothek besuchen, je stärker auf die Bedeutung des Archivs hingewiesen wird, umso mehr Frauen werden motiviert, ihr Archiv oder ihre Werke zu spenden“, sagt sie und ergänzt: „Die Bibliothek nimmt natürlich auch von Männern Dokumentenspenden zu Frauenthemen an.“
Wissen mit feministischem Bewusstsein neu produzieren
Die Frauenbibliothek erfährt breite ehrenamtliche Unterstützung. Wer freiwillig mitarbeiten will, kann das je nach Erfahrung und Wunsch in unterschiedlichen Bereichen tun. Die Wissenschaftlerin Aytu Çakıcı, die seit 2000 zu den Stammgästen der Bibliothek gehört, hat hier ihre Dissertation über Frauenaktivitäten geschrieben. Sie hat sowohl ihre Master- als auch ihre Doktorarbeit der Bibliothek vermacht.
Sie fühlte sich vom ersten Tag an der Bibliothek eng verbunden und war eine Zeitlang ehrenamtlich in der Abteilung englischsprachiger Artikel tätig, dazu sagt sie: „Das hat mir wahnsinnig viel gebracht und meinen Horizont erweitert. Ich habe sowieso schon zu Frauen gearbeitet, aber für mich als Wissenschaftlerin ist es unheimlich erhellend und aufregend, dass hier Quellen zu verschiedenen Themen aus verschiedenen Bereichen und von verschiedenen Instituten zusammenkommen. Ich habe gern einen erheblichen Teil meines Lebens für die ehrenamtliche Arbeit hier verwendet.“
„Auswirkungen einer Frauen-zentrierten Büchersammlung auf den kulturellen Wandel“ lautet der Titel einer Studie, zu der Çakıcı derzeit forscht. „Die Frauenbibliothek ist ja nicht nur eine Einrichtung, wo Dokumente aufbewahrt und zugänglich gemacht werden. Mit feministischem Bewusstsein und ebensolcher Methodik produziert sie Wissen neu. Mit dieser Produktion trägt sie zu Wandel und Transformation der Frauenkultur bei“, betont Çakıcı.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
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