Türkische „Fake News“ zu Deniz Yücel: Die Revolverblätter laden nach
Erdoğan bezeichnete Deniz Yücel als „Spion“. Nun überbieten sich Regierungsmedien, den inhaftierten Journalisten als „Agenten“ darzustellen.
Würden Medienwissenschaftler*innen irgendwann in ferner Zukunft die derzeitige Nachrichtenlage zur Türkei betrachten – welches Bild würden sie dann in den türkischen Medien vorfinden?
Während die deutsche Medienlandschaft im Falle des ehemaligen taz-Kollegen und derzeitigen Welt-Korrespondenten Deniz Yücel eine unfassbar solidarische Linie hinlegt – mit ein paar Ausreißern bei der SZ, der FAZ und dem Freitag –, sieht das in der Türkei ganz anders aus. Die Polizeihaft des deutschen Kollegen wurde in den ersten Tagen kaum aufgegriffen, allein die oppositionelle Zeitung Cumhuriyet berichtete darüber.
Was aber nach einer Rede des Staatspräsidenten Erdoğan am vergangenen Freitag passierte, könnte man im mildesten Fall als „Entgleisung“, im schärfsten Fall als „Fake News“ im wortwörtlichen Sinne bezeichnen.
Als der Staatspräsident am Rande einer Preisverleihung den Journalisten Deniz Yücel als „Spion“ bezeichnete, griffen anderntags vor allem die regierungsnahen Blätter, die sogenannten Pool-Medien, diese Behauptung des Staatspräsidenten auf. Noch mehr: Die Versuche, sich gegenseitig in der Darstellung des Journalisten als „Agent“ zu übertreffen, waren besonders perfide.
taz.gazete-Redakteurin, hat Turkologie und Publizistik an der FU Berlin studiert. Türkeistämmige in der Diaspora sowie Diversity in Medienhäusern und Redaktionen sind ihre Steckenpferde.
Mit einer täglichen Auflage von 100.000 Exemplaren liegt das Revolverblatt Güneş bei diesem Wettbewerb um das systematischste Lügengerüst ganz vorn. Dieselben Unwahrheiten waren zuvor bereits über inhaftierte türkische Kollegen verbreitet worden. Insofern sind sie für türkischsprachige Leser*innen nicht ganz so neu.
Mit orangefarbenem Pfeil, für die ganz Doofen
So sei ein „Aufsehen erregender Vorwurf“ gegen Deutschland erhoben worden, titelt die Güneş. Von welcher Seite und durch wen? Die Quelle ist unbekannt. Das interessiert die Leser der Zeitung womöglich auch nicht. Auf dem gestrigen Titelblatt wird – für die ganz Doofen noch mit einem orangefarbenen Pfeil versehen – über das Bild des Journalisten Deniz Yücel profan ein „ Die Angst, dass er ein Geständnis ablegt“ gedichtet.
Die türkische Zeitung „GüneŞ“
Und weiter: „Die vor einem Monat Hals über Kopf in die Türkei gereiste Merkel bettelte Erdoğan förmlich um die Freilassung des Terroristen-Agenten der PKK, Deniz Yücel, an. Als dies erfolglos blieb, brach sie wegen Yücel alle Brücken ab. Deutschland befürchtet, dass der Agent Yücel gesteht und so etliche Kontakte ausliefert.“
Belege dafür? Sucht man vergeblich. Die weitere Betextung erspare ich Ihnen und mir, es ist doch zu panne, wie hier mit einem Kollegen verfahren wird.
An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass auch deutsche Medien in der Causa Türkei zu Übertreibungen neigen. Dann nämlich, wenn in der Debatte über Auftritten türkischer Minister, eine altbekannte Diskussion wieder aufflammt: Die um die hiesigen Deutschtürk*innen und ihre vermeintliche „Integrationsunwilligkeit“.
Oftmals ist da die Rede von „60 Prozent aller Deutschtürken“, die angeblich die AKP wählen. Das aber stimmt rein rechnerisch nicht. Betrachtet man nämlich die Zahlen der stimmberechtigten türkischen Wählerinnen und Wähler in Deutschland, so waren es bei den letzten Wahlen 1.411.198 Stimmberechtigte, von denen 575.564 gewählt hatten. Also etwas mehr als ein Drittel. Von diesem Drittel wählten die zitierten 60 Prozent die AKP. Das ist ein Unterschied.
Falsche Zahlen
Auch wenn die Zustimmung unter den Türkeistämmigen womöglich höher liegen kann, so sind es im Endeffekt nicht die in vielen Artikeln umhergeisternden „60 Prozent der Deutschtürken“, sondern eben viel weniger.
Hoffen wir, dass zukünftige Medienwissenschaftler*innen uns diesen kleinen rechnerischen Fehler verzeihen. Ein Fehler, der eine breite Zustimmung verdeutlichen soll, ist in Zeiten wie diesen, in denen Türkeistämmige viel öfter zu Ihrer Meinung befragt werden, als sonst, eben auch nur eine Zahl. Mit der Berichterstattung über den vermeintlichen „Spion“ Deniz Yücel hat das nichts gemein.
Liebe Medienwissenschaftler*innen der Zukunft: mein Mitleid, wenn Sie diese baren Lügen auseinander montieren müssen.
Bis dahin wohl besser: die Worte von Yücels Anwalts Veysel Ok lesen („Rechtlich gesehen gibt es keinen Grund, Yücel in Gewahrsam zu behalten.“) sich nicht ärgern lassen und weiter hoffen, dass er bald frei kommt.
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