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Türkeiwahlen in BerlinAuf Stimmenfang gegen Erdoğan

Die türkischen Oppositionsparteien kämpfen vor den Wahlen in der Türkei am 24. Juni auch in Berlin um Wählerstimmen.

Auf dem Wochenmarkt am Maybachufer versuchen oppositionelle Parteien Wähler*innen zu erreichen Foto: Julia Baier

Auf dem türkischen Markt am Neuköllner Maybachufer herrscht reger Betrieb. Die Händler*innen sind mit ihren Kund*innen beschäftigt. Von den Ständen zieht Duft von Tomaten und Erdbeeren herüber. Das Bild „Klein-Türkei“ komplettieren ein paar Leute, die Broschüren für die kommenden Wahlen in der Türkei verteilen: die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 24. Juni. Auch in Berlin wird um Wählerstimmen gekämpft.

Kenan Kolat, einst Chef des Türkischen Bundes Berlin Brandenburg (TBB), später Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Deutschland, vertritt nun die oppositionelle CHP in Berlin. Er zeigt sich zufrieden mit dem Interesse, das Mitgliedern und Ehrenamtlichen der Partei hier entgegengebracht wird. Plaudernd mischt sich Kolat unter die Menge.

Die Opposition, das Bündnis der Nation (Millet ittifakı), ein Zusammenschluss aus CHP, İyi-, Saadet- und Demokratischer Partei plus HDP, konzentriert sich auf die Wiederherstellung der Demokratie und des parlamentarischen Systems. Sie richten sich gegen das Volks-Bündnis (Cumhur ittifakı) aus AKP-und MHP.

Auf dem Cover der CHP-Wahlbroschüre, die sich speziell an Wähler*innen im Ausland richtet, ist Parteikandidat Muharrem İnce abgebildet mit dem Spruch: „Mir geht es nur um die Türkei“. Inhaltlich geht es dennoch vor allem um Versprechungen, die türkische Staatsbürger*innen in Deutschland betreffen: günstige Flugtickets, Aufhebung bürokratischer Schwierigkeiten bei Scheidung, Erbe, notarielle Angelegenheiten.

Türkische Staatsangehörige in Deutschland konnten erstmals bei den Präsidentschaftswahlen am 10. August 2014 hier ihre Stimmen abgeben. Die Wahlbeteiligung lag damals bei nur 15 Prozent. Bei den folgenden vier Wahlen erhöhte sich die Beteiligung kontinuierlich und erreichte 46 Prozent beim Referendum über eine Verfassungsänderung zur Macht des Staatspräsidenten im April 2017.

In Deutschland, wo mit 1.430.000 nahezu die Hälfte der Wahlberechtigten in Europa lebt, gaben 654.000 Wähler*innen ihre Stimme ab. Während in den Städten im Westen das von der AKP propagierte Ja eine überwältigende Mehrheit erhielt, war Berlin unentschiedener. 51 Prozent von 57.000 aktiven Wähler*innen stimmten hier für das Präsidialsystem, 49 Prozent dagegen.

Seit dem 7. bis zum 19. Juni kann man in Berlin im Generalkonsulat in Charlottenburg wählen gehen. Die CHP hat einen Fahrdienst von Wedding, Kottbusser Tor und Hermannplatz zum Wahlbüro eingerichtet. 25 Taxifahrer*innen unterstützen die Partei ehrenamtlich. Kranke, Behinderte und Senior*innen können sich so zur Stimmabgabe fahren lassen.

„Erstes Ziel ist für uns, die Wahlbeteiligung zu erhöhen“, erläutert CHP-Vertreter Kolat, „Denn das Stimmenpotenzial der Opposition liegt bei 60 Prozent, aber sie gehen nicht zur Wahl.“ Kolat sagt, dieses Mal würden mehr Menschen zur Wahl gehen, im Konsulat sei die Anzahl der Wahlurnen von zehn auf zwölf erhöht worden. Das Generalkonsulat in Berlin bestätigt indes nicht, dass diesmal mehr Wähler*innen eingetragen seien. Offenbar wird erst nach den Wahlen feststehen, ob die Wahlbeteiligung gestiegen ist.

Wie schon bei den letzten Wahlen können im Ausland lebende Türk*innen auch kandidieren. Kenan Kolat steht auf Listenplatz 20 für den Bezirk 2 von Istanbul. Bei den letzten Wahlen wurden acht CHP-Kandidaten aus diesem Bezirk ins Parlament gewählt. Kolat hat also so gut wie keine Chancen. Er ist enttäuscht, einen so schlechten Listenplatz erhalten zu haben, obwohl er seit Jahren in der Politik ist und auch Vorsitzender der Türkischen Gemeinde Deutschland war: „Es wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Opposition und dem Volks-Bündnis geben. Es kann gut sein, dass die Wahl diesmal in Europa entschieden wird. Man hätte die Motivation verdoppeln können. Außerdem ist die Türkei-Politik in Europa von Relevanz.“

Innerparteiliche Diskussionen wurden genau wie Konflikte zwischen den Oppositionsparteien in Berlin auf die Zeit nach den Wahlen verschoben. Die CHP bemüht sich, zwischen den anderen Parteien im Bündnis der Nation und der ausgegrenzten HDP eine Brückenrolle zu übernehmen. Die Parteien der Opposition eint nur das gemeinsame Ziel: das Ein-Mann-Regime verhindern. In Berlin arbeitet die CHP etwa mit der Iyi-Partei zusammen, die unter Führung von Meral Akşener als Abspaltung von der mit der AKP verbündeten MHP gegründet wurde. CHP-Mitglieder besuchen Parteiveranstaltungen der alliierten İyi-Partei, gemeinsam unternehmen sie Schritte zur Sicherung der Wahlurnen.

İbrahim Özdağ von der neuen İyi-Partei sitzt in einem Teegarten in Schöneberg, er bezeichnet sich als „militanten Nationalisten“. Der über beide Mundwinkel heruntergezogene Schnauzer gibt ihm das traditionelle Erscheinungsbild der MHP-Anhänger. Über die Phase der Loslösung von der MHP sagt er: „Zuerst opponierten wir intern. Dann haben wir Meral Akşener als weibliche Führung hingenommen und unseren Beschluss gefasst.“

Özdağ ist auch als Regionalvorsitzender der nationalistischen Türkischen Föderation Berlin tätig, von seiner persönlichen Geschichte kommt er rasch auf seine „Türkei-Liebe“ zu sprechen: „Erdoğan reduziert die Heimatliebe auf sich allein. Wegen seiner persönlichen Interessen wird das Land verjubelt.“

Özdağ ist sich bewusst, dass die kurdische HDP, die beim Bündnis der Nation außen vor gelassen wurde – denn türkische Nationalist*innen haben ein Problem mit ihr – eine Schlüsselrolle dabei spielen wird, wenn Erdoğan die Wahlen verliert. „Wir wollen, dass die HDP über die Hürde kommt“, sagt er.

Rezan Aksoy, Ko-Sprecher der HDK/HDP Berlin, lächelt, als er hört, dass Ibrahim Özdağ von der İyi-Partei sich wünscht, dass die HDP die 10-Prozent-Hürde bei den türkischen Parlamentswahlen schafft. Aksoy, der wie viele Politiker*innen, Journalist*innen und Wissen­schaftler*innen im Berliner Exil lebt, ist Theatermacher. Er zieht Parallelen zwischen der Situation in der Türkei und Bertolt Brechts Stück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“: „Wir haben zwei Alternativen: Entweder verhindern wir den Aufstieg, oder wir verlieren.“

Die HDK/HDP Berlin begann unmittelbar nach dem im April verkündeten Beschluss für vorgezogene Neuwahlen Versammlungen abzuhalten. Alternative Diskussionen, Boykott oder Fragen wie „Lässt Erdoğan demokratische Wahlen abhalten?“ seien irrelevant geworden. Es wurde eine Kommission gegründet, in der Exilpolitiker*innen wie Kemal Aktaş und Ayhan Yıldırım vertreten sind, aber auch Personen wie Hakan Taş, Berliner Abgeordneter der Linken. In Kreuzberg, Neukölln, Schöneberg, Marzahn, Spandau und Wedding wurden Wahlkomitees auf die Beine gestellt.

Die HDP versucht in Berlin nicht nur die eigenen Wäh­ler*innen zu erreichen, sondern auch Kur­d*innen, die sich von der AKP abgewendet haben: „Denn Kurd*innen, die der AKP den Rücken kehren, sind auf der Suche, wem sie ihre Stimme geben sollen. In der Türkei wurden zwei rechte Bündnisse gegründet. Die einzige linke Alternative ist die HDP“, sagt Aksoy.

Während sich die Opposition anstrengt, das „Ein-Mann-Regime zu verhindern“, strebt die AKP, die die Türkei seit 16 Jahren regiert, danach, ihre Regierung fortzusetzen. Normalerweise ist man bei der AKP im Wahlkampf extrem aktiv, diesmal aber herrscht Stille – auch in Berlin. Eine Gesprächszusage mit der taz wird abgesagt. Man nehme, erklärt der Zweite Vorsitzende der AKP Berlin, Abstand, „auf Anordnung aus der Wahlzentrale in Köln“.

Offenbar ist das von der AKP aufgebaute Klima der Angst auch innerhalb der Partei in Berlin zu spüren. Denn wie für die Opposition sind die kommenden Wahlen auch für die AKP ein Kampf ums Überleben.

Übersetzung aus dem Türkischen: Sabine Adatepe

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