Türkei-Wahl: Die neue Mitte
Erdogans AKP hat einen überwältigenden Wahlsieg errungen. Doch bis zur Wahl eines neuen Präsidenten ist die Krise in der Türkei nicht beigelegt.
ISTANBUL taz Am Sonntagabend gegen 22.30 Uhr war es so weit: Gemeinsam mit seinem Stellvertreter, dem Außenminister Abdullah Gül, und den streng verhüllten Ehefrauen erschien der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf dem Balkon seiner Parteizentrale, um den größten Erfolg seiner Karriere zu verkünden. Er sprach von einem "großen Sieg der Demokratie", an dem sich die Welt ein Beispiel nehmen könne, aber auch über die "unverrückbaren Prinzipien der Republik" und die unterschiedlichen Lebensformen, die im Land existierten. Während seine Anhänger feierten, bemühte sich Erdogan darum, nicht triumphierend zu wirken.
Bei der Parlamentswahl in der Türkei hat die islamisch-konservative AKP von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan nach vorläufigen Ergebnissen mit 46,7 Prozent die absolute Mehrheit der Parlamentssitze geholt. Die Republikanische Volkspartei CHP kam auf 20,8 Prozent, wie der türkische Nachrichtensender NTV am Montag nach Auszählung der Stimmen berichtete. Als dritte Partei schaffte die nationalistische MHP mit 14,3 Prozent den Einzug ins Parlament. Hinzu kommen 27 Einzelkandidaten, die meisten von ihnen von der Kurdenpartei DTP.
Dabei hätte er allen Grund zum Jubeln. Seine Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP, hat rund 6 Millionen hinzugewonnen und sich von 34 Prozent bei den Wahlen im Jahr 2002 auf 47 Prozent verbessert - ein Zuwachs, der jeden Zweifel an der demokratischen Legitimation ihrer erneuten absoluten Parlamentsmehrheit beseitigt. In fünf Provinzen an der Ägäisküste und in Thrazien ist die kemalistische CHP die stärkste Kraft, in zwei südlichen die rechtsradikale MHP und in sechs Provinzen im Osten und Südosten die unabhängigen Kandidaten aus den Reihern der kurdischen DTP. In den übrigen 68 Provinzen ist die AKP stärkste Partei.
Damit hat Erdogan endgültig das Erbe von Süleyman Demirel und Turgut Özal angetreten, jenen Politikern, die über Jahrzehnte den türkischen Konservatismus dominiert haben. Dass für die AKP der Islam eine größere Rolle spielt als für die vorigen Mitte-rechts-Parteien, liegt zum einen daran, dass der Kern der Partei dem politischen Islam entstammt. Zum anderen hat nicht nur in der Türkei die politische und gesellschaftliche Bedeutung der Religion zugenommen. Zugleich ist die AKP eine wirtschaftsliberale bis neoliberale Partei, der es gelungen ist, die Türkei für internationale Investoren interessant zu machen. In ihrer fünfjährigen Regierungszeit ist mehr ausländisches Kapital ins Land geflossen als in den zwanzig Jahren zuvor. Das hat zu dem Wirtschaftsboom beigetragen, den das Land erlebt. Selbst wenn die meisten Wähler der AKP bislang kaum davon profitiert haben, trauen sie der AKP eine Wirtschaftspolitik zu, die ihnen selbst zugute kommt. Darum hat knapp die Hälfte der Türkinnen und Türken die AKP gewählt - und nicht weil sie die Scharia wollen.
Oppositionsführer Deniz Baykal hatte dem nichts entgegenzusetzen, als Ängste vor einer vermeintlichen Bedrohung des Laizismus zu schüren. Mit 20 Prozent wiederholte die CHP ihr letztes Ergebnis. Noch in der Nacht versammelten sich Anhänger vor der Parteizentrale und forderten Baykals Rücktritt, der sich nicht blicken ließ.
Von Baykals Angstkampagne, seinen nationalistischen Parolen und seinen Klagen über einen "Ausverkauf" des Landes hat die rechtsextreme MHP profitiert. Sie konnte sich den Frust über die EU und die Empörung über zunehmende Attentate der PKK zunutze machen und kehrt mit 14 Prozent ins Parlament zurück.
Die beiden neuen Fraktionen - die MHP sowie die Kandidaten von der kurdischen DTP - sind der Grund dafür, warum die AKP trotz ihres überwältigenden Wahlsiegs 10 Abgeordnete weniger haben wird als in der letzten Legislaturperiode. Dreißig Mandate fehlen ihr zu einer Zweidrittelmehrheit, die nötig wäre, um allein den künftigen Staatspräsidenten zu wählen. Diese Aufgabe steht dem Parlament bevor, am besten bei seiner ersten Zusammenkunft am 3. August.
Erst das Scheitern der Wahl des Staatspräsidenten hat zu den vorgezogenen Neuwahlen geführt. Die Frage ist nun, ob Erdogan einen Kompromisskandidaten suchen wird, der zumindest für einen Teil der Opposition wählbar ist. Damit würde er den Konflikt mit der Militärführung deeskalieren und zeigen, dass er die Ängste vieler säkularer Türken vor einer Hegemonie der AKP ernst nimmt. Ein Festhalten an dem Präsidentschaftskandidaten Gül hingegen würde die Krise verschärfen. Und sollte dieser die Zweidrittelmehrheit verpassen, würde das Parlament aufgelöst und die Türken und Türkinnen müssten Ende Oktober ein neues Parlament wählen.
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