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■ Tschernomyrdin hat gute Karten im russischen MachtpokerDer neue Präsident?

Wenn es nicht zu vermessen wäre, langfristige Prognosen über die Zukunft Rußlands zu machen, so müßte man sagen, daß in diesen Tagen politisch die Weichen für die nächsten Jahre neu gestellt werden. Die Kontrolle über diese Weichen aber hat ein Mann übernommen, der trotz seiner Position bisher eher im Hintergrund blieb: Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin.

Dabei hatte es zunächst nicht allzu gut für den Premier ausgesehen. Eine große Koalition aus Nationalisten, Kommunisten und Reformern sprach am Mittwoch seiner Regierung das Mißtrauen aus. Einen Tag danach wurde aber klar, daß Tschernomyrdin diese Abstimmung selbst forciert hat. Gestern stellte er dann die Vertrauensfrage. Er kann dabei, so paradox es sein mag, nur gewinnen. Die Logik Tschernomyrdins: Sollten die Abgeordneten ihm diesmal nicht das Mißtrauen aussprechen und so die drohende Parlamentsauflösung verhindern, hätte er einmal mehr deutlich gemacht, daß sie nur ihren eigenen Interessen folgen. Stimmen sie aber gegen ihn und wird die Regierung umgebildet, werden darin die Machtminister der Verteidigung und des Inneren, Gratschow und Jerin, fehlen. Sie wollte der Premier schon länger loswerden. Nicht nur im Tschetschenien-Krieg hatten sie das Ansehen seiner Regierung zu sehr beschädigt. Und selbst dann, wenn Jelzin, wie vor allem die Reformer um Jegor Gaidar vermuten, dem Ministerpräsidenten seine bisherige Unterstützung entzieht und einen Hardliner zum neuen Premier ernennt, hat sich Tschernomyrdin eine glänzende Ausgangsbasis für die Parlamentswahlen im Dezember gesichert. Zum ersten Mal seit langer Zeit gibt es in Rußland wieder einen Politiker, dem zumindest Teile der Bevölkerung Vertrauen und Anerkennung entgegenbringen. An Popularität fehlt es somit nicht, und auch eine eigene Partei hat der Premier bereits.

Lernen wir in diesen Tagen also das politische Geschick des zukünftigen russischen Präsidenten kennen? Folgt auf den Idealisten Gorbatschow und den Kämpfer Jelzin nun der Pragmatiker Tschernomyrdin? Nicht zuletzt wird dies von der Haltung der Mächtigen im Kreml und im Weißen Haus abhängen, die im Hintergrund die Fäden ziehen. Bisher sieht es so aus, als versuchten die Apparate sowohl Jelzin als auch Tschernomyrdin zu stützen. Als ehemaliger Manager des staatlichen Energiegiganten Gasprom hat Tschernomyrdin letztendlich aber wohl die besseren Verbindungen zur alten neuen Nomenklatura. Die Frage der nächsten Wochen wird also sein: Wann wagt Tschernomyrdin den Absprung, wann kann er sich sicher sein, eine breitere Machtbasis als Jelzin zu haben? Solange wird er die Rolle des zweiten Mannes spielen. Sabine Herre

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