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Trotz allem: Liebe ist nicht peinlich

■ Der HSV erringt den ersten Heimsieg des Jahres / Abstiegskandidat VfB Leipzig unterliegt 0:3

Das Volksparkstadion schien sich drei Minuten vor dem Anpfiff abrupt zu verengen. Sitze, selbst Stehplätze fühlten sich couchig an. Vier Wände eines Neue-Heimat-Wohnzimmers umschlossen die 23.000 Gäste am Sonnabend Nachmittag mit sanfter Gewalt. Die mediale Abwicklung dessen, was man früher als Privatleben bezeichnete, konnte vor dieser Kulisse ihren gnadenlosen Lauf nehmen. „Angelika, ich liebe Dich mehr als mein Leben - willst Du meine Frau werden?“, leuchtete es von der Anzeigetafel, die der „Zeitsponsor“ des HSV gnädig geräumt hatte. Stadionsprecher „Kuppel-Carlo“ von Tiedemann forderte die digital Umschwärmte dröhnend auf, ihr Ja-Wort in der Sprecherkabine abzugeben.

Auch ohne Heiratsantrag war den Anwesenden bewußt, daß das Spiel gegen den VfB Leipzig eine Familienfeier werden würde. 4000 Jugendspielern aus den Clubs um Alster und Elbe sowie 500 treuen Schneeschauflern vom letzten Heimspiel wurde der Eintritt spendiert. Sie alle wußten, daß aus Sachsen ein Erstligist am Tisch Platz nehmen würde, der mit dem Makel der Erfolglosigkeit behaftet ist und den es zwischen Bienenstich und Marzipan-Nuss höflich aber bestimmt auseinanderzunehmen galt.

Die Gastgeber ließen sich - selbst etwas lädiert vom 0:4 am letzten Wochenende in Stuttgart - mit dem Einschenken etwas Zeit. Valdas Ivanauskas griff in der 21. Minute zur Kanne. Der Litauer suchte mit einem 16-Meter-Freistoß, in den er seine gesamte Ungeduld legte, das Geplänkel zu beenden. Leipzigs Keeper Maik Kischko parierte glänzend und faustete den Angriff über die Latte. Der hanseatische Anhang raunte verärgert, 23 Tapferchen aus dem neuen Bundesland faßten Mut. So auch Thomas von Heesen. Der HSV-Kapitän düpierte Maik Kischko mit einem Fallrückzieher, dessen Verlängerung nicht als Tor gewertet wurde, weil Karsten Bäron sich im Abseits befand. Langsam wurden die blau-weißen Gäste zwischen Tischkante und Wohnzimmerwand geklemmt. Sie wanden sich nur wenig. Einer Flanke von Andreas Sassen verpaßte Valdas Ivanauskas in der 44. Minute mit dem Kopf den rechten Winkel zum Flug in die Maschen. Fünfzig Sekunden später erhöhte Karsten Bäron zum 2:0. Es war wohl wieder Abseits, doch das schien die Linienrichter zu diesem Zeitpunkt nicht zu stören.

Nach der Pause wurde es eintönig. Die Gäste rangen zaghaft nach Luft, einzelne, schön anzusehende Konter, beispielsweise der Alleingang von Franklin Spencer Bitencourt nach einer Stunde, wurdendennoch kraftlos vergeben. Nico Däbritz, dessen Zusammenstoß mit Thomas von Heesen in der ersten Halbzeit die linke Braue des HSV-Oldies zum Aufplatzen brachte, verzweifelte angesichts der Überlegenheit seines Gegenspielers IVANauskas. Harals Spörl, der sich an der Demontage des VfB bis dahin kaum beteiligt hatte, lenkte 22 Minuten vor Schluß eine Vorlage des in Hochform befindlichen Litauers ins linke Eck hinter Maik Kischko und manifestierte so den Endstand.

VfB Trainer Jürgen Sundermann wollte sich später nicht geschlagen geben, räumte aber murmelnd ein, „daß vieles spekulieren jetzt auch nichts mehr hilft.“ Die Leipziger Fans draußen falteten still ihre zwei oder drei regennassen Transparente zusammen. Warum waren Sie nur gekommen? Nur, um Ihre Equipe einmal mehr untergehen zu sehen? Nein, sie waren aus Liebe hier. Und Liebe, das weiß auch Karsten Hehling, der besagter Angelika per Anzeigentafel einen Antrag machte, ist nicht peinlich.

Claudia Thomsen

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