Trockenübungen: Kreuzberger bleiben nüchtern
Es gibt keinen Alkohol am 1. Mai und auch rund um die Oranienstraße schließen die meisten Geschäfte. Allerdings nicht immer freiwillig.
Seit fünf Jahren ist er beim Myfest dabei, der Verkäufer des Spätkaufs und Internetcafés "Or@nien net", Önder Açik. Doch in diesem Jahr muss er seinen Laden in der Oranienstraße am 1. Mai zumachen. Vor ein paar Tagen hat er einen Brief vom Ordnungsamt bekommen. "In der ersten Hälfte steht, man darf alkoholfreie Getränke in den Plastikbechern verkaufen. Alle Flaschen sollen jedoch aus den Regalen verschwinden." Açik schaut auf seine Wandregale voller Wein-, Wodka- und Bierflaschen. "In der zweiten Hälfte des Briefs steht, dass der 1. Mai ein Feiertag ist. Deswegen müssen alle Geschäfte geschlossen bleiben", sagt der 30-Jährige.
Darf er also öffnen oder nicht? Açik fragte nach. Beim Bezirkskamt hieß es "ja", beim Ordnungsamt "nein". "Die Polizei sagt, dass die Glasflaschen gefährlich sind", sagt Açik. Also haben er und seine Frau beschlossen, den Shop am Samstag zu schließen. "Wir haben Angst vorm Ordnungsamt", gibt er zu.
Die strengeren Vorgaben für das diesjährige Myfest verteidigt Bezirksbürgermeister Franz Schulz (Grüne) am Donnerstagvormittag erneut. "Ein Myfest, das sich zum Saufgelage entwickelt, wollen wir nicht. Da machen wir nicht weiter mit." Das bedeutet: Bier darf nur in den Kneipen verkauft und getrunken werden; an den Straßenständen dürfen die Anwohner nur alkoholfreie Getränke anbieten. Kommerzielle Straßenverkäufer soll es gar nicht geben. Entsprechend sank die Zahl der Stände von 300 im Mai 2009 auf 140.
Die Verkäuferin im Modeladen "Chapati" schräg gegenüber von Açiks Spätkauf wird am 1. Mai nicht zur Arbeit kommen. "Wir machen Rollladen zu, Licht aus und hoffen, dass der Laden heil bleibt", sagt Sonja Kugler. Die 25-Jährige wird allerdings beim Myfest privat dabei sein. Sie war schon letzes Jahr da. "Es war voll viel los. Alles war friedlich", erinnert sich die Südtirolerin. "Nur an der U-Bahn-Station Görlitzer Bahnhof gab es Gedrängel." Diesmal will sie nicht bis zum Abend bleiben. "Wer weiß, ob irgendwelche Bekloppten dann nicht randalieren?", sagt die Frau mit Piercing und Tätowierung.
Die benachbarte Buchhandlung "Kisch & Co" bleibt am 1. Mai ebenfalls geschlossen. "Erstens damit die Leute mit Bier nicht hier reinkommen und Flaschen auf die Bücher stellen. Zweitens bin ich selber kein Freund des Myfestes", sagt Verkäufer Jürgen Borchers. Die Mai-Demonstrationen an sich finde er richtig und gut. Aber "diese Partygeschichte" sei nicht sein Ding. Deswegen verlässt der 53-Jährige am Samstag seinen Kiez und besucht Freunde in Charlottenburg.
Ob der Blumenladen an der Ecke Oranienstraße/Adalbertstraße aufhat? "Natürlich nicht", erwidert der Verkäufer. "Stellen Sie sich vor, was mit den ganzen Blumen hier passieren würde?" Anders reagiert Ahmad Elrahab, der Verkäufer in "1001 Falafel" am Heinrichplatz. Genauso wie andere Imbisse hat der 37-Jährige am 1. Mai offen. "Ich freue mich auf das Fest und die Gäste."
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