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Tritt auf wehrloses Schneckenhaus

■ Michael Kreihsls schwermütige Verfilmung von Daniil Charms Zwischenfälle

Der Anfang: eine Wand aus Worten. Eine hagere Hand setzt Buchstaben auf die gelbgerauchte Tapete: „Eine alte Frau lehnte sich aus übergroßer Neugierde zu weit aus dem Fenster, fiel und zerschellte. Aus dem Fenster lehnte sich eine zweite alte Frau...“ Langsam, fast taktvoll, zieht sich die Kamera zurück und gibt den Blick frei auf die traurige Totale: schmutzkrustiger Herd, ein durchgelegenes Bett und der Dichter, schreibend, mittendrin. Recht matt, denn er hat Hunger, und seine dekorativ ausgemergelten Gesichtszüge zeigen an, daß ihm die Not so vertraut ist wie das träge Kratzen seiner Feder.

Der Avantgardepoet Daniil (Juvaçev) Charms, dessen Lebens- und Werkspuren Regisseur Michael Kreihsl zu seinem Film inspiriert haben, gilt als einer der großen Verkannten der russischen Literaturgeschichte. In seinen Prosastücken verenden pompös eingeleitete Handlungsstränge im Nichts, beschließen die Hauptfiguren zu ersticken, lösen sich auf oder führen, gleich vom ersten Satz an, eine Art absurder Nicht-Existenz: „Es war einmal ein Rotschopf, der hatte weder Augen noch Ohren. Er hatte auch keine Haare, so daß man ihn an sich grundlos einen Rotschopf nannte.“

„Wer hat denn gesagt, daß die Logik des Lebens für die Kunst verbindlich sei?“ hatte der 1905 geborene Charms gefragt und auf verständige Leser gehofft. Doch mit seiner verspielten, gelegentlich verwirrten, oft verzweifelten Prosa konnte das Petersburger Publikum so wenig anfangen wie die realsozialistische Kulturbürokratie. Zeitlebens wurden von Charms, der die „lieben Kleinen“ übrigens herzlich verabscheute, lediglich Kinderbücher und ein paar unverfängliche Gedichte veröffentlicht.

Seinen Tod hätte er in einem seiner Stücke nicht aberwitziger inszenieren können. Als die deutschen Truppen Petersburg belagerten, geriet Charms eher zufällig auf Hausschuhen in eine Verhaftungswelle und wurde im Hungerwinter 1942 von den Wärtern und dem Rest der Welt in seiner Zelle vergessen.

Versagen, Verschwinden, Verlöschen – Charms Zwischenfälle versucht, Bilder und Bewegungen zu finden für diese bizarre Verschränkung von Kunst und Leben. Mal Nummernrevue – wenn Charms' Texte buchstabengetreu nachgespielt werden – mal Hommage –, wenn etwa Ulrich Tukur mit hochgeschlagenem Mantelkragen aus einem Hauseingang tritt und rezitiert – prägt diesen mächtig mäandernden Film vor allem der Blick auf ein Gesicht. Der Wiener Schauspieler Johannes Silberschneider, der aussieht wie ein geträumter Franz Kafka, zelebriert die Rolle des Juvaçev mit wunderbarer Zurückgenommenheit. Wenn er mit seinem zusammengeklebten Brillengestell auf vollgeschriebenes Papier blickt oder die unerwiderte Liebe einer Dame mit „Wie schön, daß unsere Freundschaft nun mehr übergegangen ist in ... das da“ kommentiert, findet Charms Zwischenfälle zu heiter-gruseliger Ruhe. Doch statt dem verstörenden Zauber des Materials zu vertrauen und die lakonische Brutalität der literarischen und biographischen Vorlagen auszukosten, zermalmt Kreihsl Charms' Charme allzu oft mit plumper Bildsymbolik. Denkt der Dichter an die Liebe, schweben Brautschleier durchs Bild, wird er von seinen Häschern abgeholt, zertritt der Schuh eines der Beamten ein wehrloses Schneckenhaus. Und damit jeder kapiert, daß es Kreihsl um jenen magischen Moment der künstlerischen Auslöschung eines verkannten Genies geht, wird die Wörterwand vom Anfang am Ende voller gemächlicher Schwermut übermalt. Peter Nedetzki 3001

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