Treffen von Renzi, Merkel und Hollande: Auf der Geburtsinsel Europas
Renzi, Merkel und Hollande sprechen am Montag über die Zukunft der EU – auf Ventotene, wo Europa schon einmal neu begründet wurde.
Dass die Wahl für den Gipfel auf die Insel statt auf Rom, Mailand oder auch das mondäne Capri fiel, mag bizarr erscheinen und ist doch absolut zwingend. Denn schon einmal, zum denkbar unwahrscheinlichsten Zeitpunkt, unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen, wurde hier Europa neu gegründet, im Jahr 1941.
Hitler stand im Zenit seiner Macht, nach dem Überfall auf Polen 1939 hatte er 1940 Frankreich erobert, im Juni 1941 die Attacke auf die Sowjetunion gestartet, um sein eigenes europäisches Einigungswerk im Zeichen des Hakenkreuzes – inklusive Vernichtung der Juden und Unterwerfung der „minderwertigen“ Slawen – zu vollbringen.
Als Spinner wären seinerzeit wohl jene drei Männer und jene Frau durchgegangen, die ausgerechnet 1941 über ein ganz anderes Europa nachdachten, eines ohne Hitler und seinen treuen Alliierten Benito Mussolini, eines, das föderalistisch verfasst sein sollte, um ein für alle Mal den Nationalstaaten – und damit den fürchterlichen Kriegen – ein Ende zu setzen. Und ein wenig aus der Welt lebten sie ja auch, allerdings nicht aus freien Stücken. Das Mussolini-Regime hatte sie, allesamt unbeugsame Opponenten des Faschismus, nach Ventotene verbannt.
„Es ist verboten, über Politik zu sprechen“
Ernesto Rossi, einer der rührigsten Aktivisten von „Giustizia e Libertà“, einer liberalsozialistischen Widerstandsgruppe, hatte schon neun Jahre in den faschistischen Gefängnissen verbracht, ehe er nach Ventotene geschickt wurde. Im Alter von nur 21 Jahren hatte der Römer Altiero Spinelli, im Jahr 1928, eine neunjährige Haft angetreten, weil er in der kommunistischen Jugend aktiv war. Auch er wurde nach Verbüßen der Strafe ins „Confino“, in die Verbannung geschickt. Dort trafen die beiden auf Eugenio Colorni, auch er ein liberalsozialistischer Gegner des Faschismus. Und auf dessen Frau Ursula Hirschmann, eine Berliner Jüdin, die 1933 mit ihrem Bruder – dem späteren Ökonomie-Nobelpreisträger Albert O. Hirschman – nach Paris geflohen und nach ihrer Heirat mit Colorni 1935 nach Triest gezogen war. Bloß „in die Ferien“ habe Mussolini seine Gegner geschickt, sollte Silvio Berlusconi gut 60 Jahre später behaupten. Ganz so war es nicht.
In Fesseln gelegt brachten die Verbannten die Überfahrt auf dem Postboot hinter sich, und kaum waren sie angekommen, bekamen sie das „Kleine rote Buch“ ausgehändigt, das mit der Mao-Bibel nur den Namen gemein hatte: Statt Tipps für die Revolution enthielt es eine lange Liste von Verboten, damit die Revolution unterblieb. „Man darf ohne Genehmigung keine Kirche betreten, man darf nur auf gestempeltem Papier schreiben, es ist verboten, über Politik zu sprechen. Der Besitz von Taschenlampen ist verboten. Der Besitz von Spielkarten ist verboten“ – endlos war die Liste der untersagten Dinge.
Manifest von Ventotene, 1941
Von Ferien konnte hier keine Rede sein. Auf die etwa 1.000 Inseleinwohner kamen 800 Verbannte, und auf die passten wiederum 350 Polizisten und Carabinieri auf. Die Gefangenen schliefen in Baracken, ihre schmalen Essensrationen nahmen sie in Mensen ein, die streng nach politischer Zugehörigkeit getrennt waren. Acht Mensen betrieben die Kommunisten, die größte und bestorganisierte Gruppe, dann gab es noch die Speisesäle der Anarchisten, der Sozialisten – und die der europäischen Föderalisten. „Sofort eine Arbeit suchen“ sollten sich die Verbannten: Auch dies schrieb ihnen das „Rote Buch“ vor.
Das war blanker Hohn, Arbeit gab es keine auf der Insel. Einige machten sich an die Hühnerzucht, andere stellten Kaninchenfallen auf, Spinelli eröffnete einen kleinen Laden für Reparaturen. Doch die meiste Zeit verbrachten die Antifaschisten mit langen Spaziergängen, streng nach Vorschrift, höchstens zu zweit.
Eigentlich hätten Spinelli, Colorni, Rossi, Hirschmann dabei nur übers Wetter reden dürfen – doch die Realität sah anders aus. „Stell dir die Welt in einem Wassertropfen vor, eine Welt auf einem Fels und alle Parteien auf diesem Fels, mit der Möglichkeit, einander täglich zu sehen und einander vierzigmal täglich zu begegnen“ – so beschrieb Ernesto Rossis Frau Ada die Situation auf Ventotene.
Misstrauisch beäugt von den Kommunisten, belächelt von den Anarchisten, sprachen die „Föderalisten“ auf ihren Spaziergängen über Europa, über das Gesicht, das der Kontinent nach der ihnen als sicher geltenden Niederlage von Faschismus und Nationalsozialismus haben sollte. Und sie schrieben ihre Gedanken nieder, in dem „Manifest für ein freies und geeintes Europa“. Als Autoren werden gemeinhin Rossi und Spinelli genannt, doch auch Ursula Hirschmann und Eugenio Colorni hatten kräftigen Anteil an dem Werk.
Ein „dritter Weg“ wird in dem Manifest theoretisiert, zwischen den in souveränen Nationalstaaten organisierten kapitalistischen Gesellschaften und dem Kommunismus. Das nationale Machtstreben habe im Faschismus bloß seine radikale Zuspitzung erlebt – aber auch von kommunistischen Staaten sei kein Ende der internationalen Konflikte zu erwarten, da auch in ihnen das jeweilige nationale Interesse dominieren werde.
Die europäische Idee auf Zigarettenpapier
Nur einen Ausweg für die neue europäische Nachkriegsordnung sehen die Autoren: die Überwindung der Nationalstaaten in einer europäischen Föderation, mit der allein sich „die gegenwärtige internationale Anarchie“ überwinden lasse: in einem Bundesstaat, der allein Armee und Polizei aufstellt, der alle Handelsbarrieren beseitigt, der eine Gemeinschaftswährung einführt und den Bürgern volle Bewegungsfreiheit zusichert. Das ist nicht bloß Euro, Schengen, gemeinsamer Markt, das ist vor allem eine europäisch verfasste Demokratie – nur mit den „Vereinigten Staaten Europas“ sei die „Eliminierung des imperialistischen Militarismus“ zu erreichen.
Doch vorerst standen die auf 70 Seiten niedergelegten Gedanken bloß auf Papier, genauer: auf kleinen Zigarettenpapierfetzen, auf denen die Föderalisten von Ventotene in Miniaturschrift ihr Manifest niederlegten. Eine von ihnen, Barbara Hirschmann, konnte sich frei bewegen, konnte – da sie keine Gefangene war – immer wieder aufs Festland übersetzen. Zwar wurde sie vor jeder Reise gründlich durchsucht, doch ein paar Geldscheine an die Frau, die mit der Leibesvisitation betraut war, lösten das Problem. Schon vom Sommer 1941 zirkulierten die ersten Exemplare das Manifests unter den Aktivisten der italienischen Resistenza.
Als dann im Juli 1943 Mussolini stürzte, als die Verbannten in Freiheit kamen, beriefen sie umgehend ein Treffen in Mailand ein, auf dem sie mit Gleichgesinnten die „Föderalistische Bewegung Europas“ aus der Taufe hoben. Doch als im September 1943 deutsche Truppen Nord- und Mittelitalien besetzten, stand erst einmal die Befreiung von der Naziherrschaft an. Spinelli zog sich zunächst in die Schweiz zurück – begleitet von Barbara Hirschmann, die sich von ihrem Mann Eugenio Colorni getrennt hatte und nun mit Spinelli zusammenlebte.
Spinelli beerdigt auf Ventotene
Doch der engen Zusammenarbeit zwischen Colorni und Spinelli taten die privaten Verwicklungen keinen Abbruch: Es war Colorni, der 1944 im von den Nazis besetzten Rom als Herausgeber des Manifestes und Autor des Vorworts fungierte; nur wenige Tage später fiel er einem faschistischen Greiftrupp zum Opfer; als er zu entkommen suchte, wurde er erschossen.
Altiero Spinelli und Barbara Hirschmann setzten das gemeinsam begonnene Werk fort. Im März 1945 beriefen sie in Paris den ersten internationalen Kongress der Europäischen Föderalisten ein, an dem auch Albert Camus und George Orwell teilnahmen. Für Spinelli sollte die Einigung Europas zur Lebensaufgabe werden. 1970 wurde er Mitglied der Europäischen Kommission, 1976 stellte die Kommunistische Partei Italiens – die den antistalinistischen Abweichler Jahrzehnte vorher ausgeschlossen hatte – ihn als unabhängigen Kandidaten fürs Abgeordnetenhaus auf und entsandte ihn ins Europäische Parlament. Bis zu seinem Tod 1986 kämpfte er dort für eine europäische Verfassung. Wie er es gewünscht hatte, wurde er auf der kleinen Insel beerdigt, auf der er sein Werk für die Einigung Europas begonnen hatte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung