Traumabewältigungs-Musical an Schaubühne: Eine Pille namens Zeitgeist
Posttraumatisches Belastungsmusical? „Bucket List“ von Yael Ronen und Shlomi Shaban an der Berliner Schaubühne sediert während der Krisenbewältigung.
Gleich am Anfang regnet weiße Wäsche vom Himmel. Männerhemden, frisch gestärkt für den Alphatierchenkampf auf der Vorstandsetage, plumpsen neben schmalen Hemdchen mit dünnen Trägern auf die Bühne. Manche bleiben kompakt als Päckchen, werden daher schnell von der Schwerkraft nach unten gezogen. Andere entfalten sich im Flug, verwandeln sich in Schwebeobjekte, in kleine Fallschirme gar. Das sieht poetisch aus.
Ein paar Sekunden später stellt sich die Erinnerung an die Gleiter ein, mit denen die Terroristen der Hamas am 7. Oktober mitten in der Produktionszeit dieses Musicals die Zäune von Gaza überwanden und ihr Abschlachten und Entführen von israelischen Zivilisten begannen. Weiße Kleidung ist in manchen Gesellschaften das Zeichen von Trauer.
Hierzulande hüllen sich Frauen zur Hochzeit in weiße Wolken, gleiten so über in eine neue Lebensphase. Ganz vordergründig steht weiße Wäsche für Reinheit, und auch für das Wiederweißmachen, für das Befreien von ganz materiellem Schmutz sowie vom metaphorischen Schmutz, der wegen begangener Untaten an den Kleidern von Tätern – oder sollte man besser sagen: Untätern? – klebt.
Gewaltiger Assoziationshorizont
Regisseurin Yael Ronen, Bühnenbildnerin Magda Willi und Kostümbildner Amit Epstein spannen zu Beginn des Musicals „Bucket List“ also einen gewaltigen Assoziationshorizont auf. Dem wird das Spiel der dreiköpfigen Bühnenband und des vierköpfigen Gesangs- und Schauspielensembles über die Länge dieses Doppelalbums (circa 75 Minuten) leider nicht ganz gerecht.
„Bucket List“ an der Schaubühne Berlin, weitere Vorstellungen vom 13. bis 16. Dezember 2023, jeweils um 20 Uhr
Komponist Shlomi Shaban hat für sie einen vor allem eingängigen Soundtrack geschrieben. Er groovt und schwebt. Manchmal dockt er an die verspielte Leichtigkeit vom Musik-TV-SenderViva in den 1990ern an, als im Bewusstsein der hiesigen Jugend – okay, abgesehen von den in ostdeutschen Plattenbauten in Städten und auf dem Lande Aufgewachsenen – alles noch möglich schien und nichts ein größeres Problem war.
Zuweilen erzeugt die Komposition auch jene forcierte Fröhlichkeit, die in Kaufhaus-Fahrstuhlmusik gepackt ist, immer dann jedenfalls, wenn nicht zum Weihnachtskaufrausch animiert werden soll. Das ist thematisch gut gesetzt. Denn in den Songs, auch die Texte stammen von Shaban, geht es schließlich um Fröhlichkeit, die nach dem Vergessen kommen soll, nach dem Auslöschen traumatischer Erinnerungen.
Modifizierte Erinnerungen
Die Pille, die hier verabreicht wird, ist in diesem Falle nicht einfach nur Pop an sich, der ja auch vergessen machen darf, sondern sozusagen Pop hoch zwei. Besungen wird nämlich die neue Produktlinie „Zeitgeist“, die im Hirn Erinnerungen modifizieren und schlechte am besten ganz eliminieren soll. Vehikel dafür ist ein neuartiges Gehirnimplantat.
Herz, Leber und Niere, ja sogar die Bauchspeicheldrüse kann die Medizin mittlerweile austauschen. Warum nicht auch irgendwann das Gehirn? Dass es dafür Bedarf gibt, belegt der – ebenfalls in einem Song besungene – rasant wachsende Markt für Behandlungen von posttraumatischen Belastungsstörungen.
Dass es auch bei „Zeitgeist“ Nebenwirkungen geben kann, deuten die Songs und die Spielszenen zwischen den Songs immerhin an. Eifersuchtsszenarien ploppen hoch, Missbrauchsszenarien ebenfalls. Und möglich sei sogar, dass das Gehirnimplantat Erinnerungen ganz anderer Menschen evoziere, die dann in Konflikt mit dem Restreservoir der eigenen Rückbezüge gerieten, heißt es in einem weiteren der Songs.
Operation gelungen, Patient:Innen…
Das sind heftige Schreckensszenarien. Ronen hat sich aber dafür entschieden – und das ist jetzt das große Aber – ihr vierköpfiges Ensemble (Moritz Gottwald, Carolin Haupt, Damian Rebgetz und Ruth Rosenfeld) weitgehend in der Position assimilierter Patient*innen zu belassen, die die Argumentation des medizinischen Personals stark verinnerlicht haben. Gelassen-melancholisch werden also die Probleme besungen, Konflikte sehr gedämpft ausgespielt.
Etwaige Abstoßungsreaktionen scheinen pharmazeutisch beherrschbar. Ein großes Thema wird in kleinen, gut verdaulichen Häppchen serviert. Das betrübt. Und es verwundert auch. Ronen, die am Gorki-Theater mit Witz, Schärfe und Furchtlosigkeit beeindruckte, gemeinsam mit Shaban sogar beim Cancel-Culture-Spott-Musical „Slippery Slope“, kommt bei ihrem Wechsel zur Schaubühne seltsam gedämpft daher.
Man kann in dem Sedierungsstück „Bucket List“ allerdings auch eine neue – und interessante – Behutsamkeit entdecken, eine Vorsicht im Benennen und Erspielen von Phänomenen. Auf alle Fälle handelt es sich um eine Inszenierung ganz eigener Art.
Im Anschluss an die Premiere setzte sich Shaban noch selbst ans Klavier und spielte den Titelsong „Bucket List“, der es nicht ins Stück selbst geschafft hat. Ein guter Song – aber nicht nachvollziehbar blieb, warum ausgerechnet er es in einem an Höhen und Tiefen eingedämmten Abend nicht auf die prioritäre Playlist schaffte.
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