Traum mit kleinen Tücken

Die Tour de France der Frauen wird Judith Arndt aus Frankfurt (Oder) auch in diesem Jahr nicht gewinnen, doch der Kummer über das erneut verpasste sportliche Lebensziel hält sich in Grenzen

von SEBASTIAN MOLL

Kleine Mädchen, so sagt man, träumen von großen Pferden und von einer Hochzeit in Weiß. Manchmal träumen sie auch von Reisen in ferne Länder, aber davon, einmal die Tour de France zu gewinnen, träumen wohl nur die wenigsten. Doch Judith Arndt war kein kleines Mädchen wie andere. Die Tour de France hatte für die junge Sportlerin aus Frankfurt an der Oder den unwiderstehlichen Geschmack von Abenteuer und Freiheit und so eiferte sie, seitdem sie ohne Stützräder Rad fahren konnte, gestandenen Mannsbildern wie den Tour-Siegern Bernard Hinault oder Miguel Induráin nach.

Letzte Woche stand Judith Arndt kurz davor, sich ihren Traum zu erfüllen. Im vergangenen Jahr war sie bereits Dritte der Tour der Frauen gewesen und in diesem Frühjahr hatte sie den Sprung auf Rang eins der Weltrangliste geschafft. So war auch niemand überrascht, als Judith Arndt schon auf der zweiten Etappe der Tour das Gelbe Trikot übernahm und es fünf Tage lang verteidigte. Doch als es ins Hochgebirge ging, zerplatzten Arndts Träume. Von einer Virusinfektion geplagt, verlor die 26-Jährige in den Alpen den Anschluss an die Konkurrentinnen und liegt nun mit fast fünfzehn Minuten Rückstand abgeschlagen auf Platz sieben. Nach neun Etappen führte die Russin Sinaida Stahurskaja mit 42 Sekunden vor der Schwedin Susanne Ljungskog und der spanischen Vorjahressiegerin Joane Somarriba.

Doch der Traum von einst hat sich für Judith Arndt ohnehin ein wenig abgenutzt. Sie ist seit fünf Jahren Profi, tingelt mit dem Radsportzirkus um die Welt und startet für ein amerikanisches Team. Da sieht man die Tour de France der Frauen aus einem anderen Blickwinkel als von der deutsch-polnischen Grenze aus: „Es gibt schönere Rennen und auch schwerere“, sagt sie heute abgeklärt. „Bei der Tour hakt es an einigem, die Hotels sind schlecht, die Transfers zu lang.“ Glanzvoll, findet Judith Arndt mittlerweile, ist bei der Tour der Frauen nur der Name, auf den auch sie als junge Fahrerin hereingefallen ist: „Das Rennen hat nun mal den Namen ‚Tour‘. Und nur deshalb ist es für die Medien und die Sponsoren interessant.“

Streng genommen hat das Rennen nicht einmal mehr den Namen. „Tour“ hieß die Frauen-Rundfahrt durch Frankreich nur, solange sie noch in die Tour der Männer integriert war. Bis 1989 kamen die Frauen zusammen mit den Männern in Paris an, die damalige Siegerin, die legendäre Jeannie Longo – die heute mit 43 Jahren noch immer mitfährt – wurde am Place de la Republique gemeinsam mit Greg LeMond geehrt. Doch dann stieß die Socièté du Tour de France die Frauen-Tour ab: Der Aufwand war zu groß, das Publikumsinteresse zu gering. Seither wird die Tour der Frauen von einem Privatmann organisiert, einem Pierre Boué aus Toulouse, der mehrere Frauenrennen in Frankreich ausrichtet. Lange stritt Boué vor Gericht um das Recht, die Frauentour auch Tour de France nennen zu dürfen, doch er verlor. „Grand Boucle Feminine“ – die große weibliche Schleife – heißt das Rennen seit 1992 sperrig.

Boué versucht mit aller Macht, der „Grand Boucle“ den Glanz der Männerkonkurrenz zu verleihen, und schießt dabei, nach Meinung vieler, über das Ziel hinaus. Die Frauen-Tour darf den Regeln des Radsportverbandes entsprechend nur 14 Tage dauern statt der drei Wochen, die die Männer unterwegs sind. Außerdem seien Etappenlängen von über 200 Kilometern, wie bei den Männern, den Frauen nicht zuzumuten. Trotzdem will Boué die Schleife wie die Männertour durch alle französischen Regionen führen. Mit zum Teil katastrophalen Folgen. Frauen-Bundestrainer Jochen Dornbusch, der Boué als „Mini-Napoleon“ charakterisiert, über die Zustände bei der Grand Boucle: „Da gibt es beispielsweise in den Pyrenäen eine Zielankunft um 17 Uhr“, erzählt er, „und danach müssen die Mädels ungeduscht 400 Kilometer über kleine Landstraßen zum nächsten Etappenort fahren. Am nächsten Tag gibt es dann, um dem Irrsinn die Krone aufzusetzen, zwei Halbetappen mit einem weiteren Transfer dazwischen.“

Deshalb schickt Dornbusch, obwohl Nationalmannschaften im Frauen-Profisport durchaus noch üblich sind, seit Jahren keine Delegation mehr nach Frankreich. Auch der Radsportverband UCI hat die Mängel der Grand Boucle erkannt und das Rennen entsprechend eingestuft: Die Tour-Siegerin bekommt nicht mehr Weltranglisten-Punkte als beispielsweise die Siegerin der Thüringen-Rundfahrt. Und selbst Judith Arndt hat sich mittlerweile damit abgefunden, dass die Frauen-Tour nicht das ist, wovon sie träumte, als sie noch Induráin anhimmelte: „Ich bin ganz froh, dass bei uns der Druck nicht so groß ist wie bei den Männern“, sagt sie jetzt sogar. Aber gewinnen möchte sie trotzdem irgendwann einmal, auch wenn es ihr nicht den Ruhm eines Lance Armstrong einbringt. Kindheitsträume sind eben hartnäckig.