Trauermarsch gegen Zwangsräumungen: Einfach nur in Ruhe alt werden
Der Berliner Musiker Peter Hollinger beging Suizid, als er aus seiner Wohnung geklagt wurde. Freunde und Kollegen erinnerten am Sonntag an ihn.
Der Trauerzug, der sich am Sonntag durch Kreuzberg bewegt, will nicht nur einem Toten die letzte Ehre erweisen. Er will laut anklagen und Betroffenheit als Wut kanalisieren. Verabschiedet wird sich hier von Peter Hollinger, einer in der Berliner Szene der freien Improvisationsmusik weltberühmten Kultfigur. Der Musiker wurde 67 Jahre alt. Ihm drohte nach dreijährigem Kampf gegen die Eigenbedarfsklage seiner Vermieterin die Zwangsräumung aus seiner Wohnung in der Adalbertstraße.
Kurz bevor diese vollzogen werden konnte, nahm er sich das Leben. Diese ultimative Entscheidung traf er nicht im Affekt, sondern mit Ansage. Auch dem Gericht, das der Klage seiner Vermieterin stattgab, waren Hollingers Verzweiflung und seine Suizidabsichten bekannt.
Vor nunmehr einem Monat schied er aus dem Leben. Die kleine Szene, in der er sich bewegte, will aber noch nicht wieder zur Ruhe kommen. Zu sehr bewegt das tragische Schicksal eines Freundes und Kollegen, zu sehr spiegelt man sich selbst in dessen prekärer und von ihm als aussichtslos wahrgenommener Lage.
Olaf Rupp, frei improvisierender Gitarrist, der an der Demo teilnimmt, obwohl er ein distanziertes Verhältnis zu Hollinger hatte, wie er sagt, merkt man an, wie angefasst er ist. Er habe sich selbst auch schon überlegt, was er anstellen würde, wenn ihn sein Vermieter auf die Straße werfen wollte. Er könne Hollingers Verzweiflung nachvollziehen und habe großen Respekt vor dessen allerletzter Entscheidung.
Gerade Corona hat schließlich dieser Szene der freien Improvisationsmusik noch einmal vor Augen geführt, auf welch tönernen Füßen ihre gesamte Existenz steht. Mit den Gagen, die hier zu verdienen sind, kann sich niemand etwas ansparen. Ein Auftrittsverbot aufgrund der Pandemie hat da schnell katastrophale Folgen. Und wer noch in einer bezahlbaren Wohnung in Kreuzberg oder Neukölln lebt, muss beten, dass er diese nicht verliert. Denn verarmte Musiker und Musikerinnen können sich ausmalen, dass es für sie angesichts des völlig überhitzten Berliner Wohnungsmarktes fast unmöglich ist, in halbwegs zentraler Lage noch einmal ein Habitat zu finden.
Die Mischung aus Trauer, Verzweiflung, Angst und Wut ist bereits am Startpunkt der Demo am Heinrichplatz spürbar. Einer der Redner sagt, Hollinger habe sich nicht selbst getötet, sondern sei getötet worden: „Der Mörder heißt Kapitalismus.“ Manche der Demonstrierenden haben Fotos von Hollinger mitgebracht, auf denen ein verschmitzt lächelnder Mann mit Schlagzeugsticks in den Händen zu sehen ist. „Peter wollte nur in Ruhe in seiner Wohnung alt werden“, so der Redner.
Und wie auf ein Kommando legen die Demonstrierenden los, um auf ihre Weise ihren Protest dagegen zum Ausdruck zu bringen, dass ihm dieser Wunsch verwehrt wurde. Viele haben klassische Blasinstrumente mitgebracht, Saxofone, Piccolo-Trompeten, Posaunen, aber auch Schlagwerk aller Art. Einer klopft mit einem Kochlöffel auf eine Bratpfanne. Ein anderer bearbeitet eine auf einem Fahrrad befestigte Trommel.
Diese Krach-Erzeuger sind als Hommage an Hollinger zu deuten. Der war schließlich nicht nur Schlagzeuger im klassischen Sinne, berühmt wurde er vor allem mit seinen sogenannten „Koffersuiten“. Bei diesem Soloprogramm stellte er einen Koffer auf die Bühne, in dem sich allerlei Zeug befand, das er teilweise von der Straße aufgeklaubt hatte: alte Autonummernschilder, Kochutensilien, irgendwelcher Schrott. Den bearbeitete er auf unnachahmlich originelle und witzige Art und Weise. Reich konnte er damit wirklich nicht werden, befindet Olaf Rupp. In Erinnerung an Hollingers Trade-Mark-Performance haben manche der Teilnehmenden auch einen Koffer mit dabei.
Die Demo zieht die Oranienstraße bis hin zur Adalbertstraße 74, in der Hollinger bis zu seinem Tod lebte. Die Musiker und Musikerinnen ziehen durch ein Kreuzberg, das einmal ihnen gehörte, zunehmend aber Immobilienspekulanten. Sie führen mit ihren Instrumenten und Bratpfannen eine lärmige Kollektivimprovisation auf. Sie sind wortwörtlich lautstark gegen Gentrifizierung. Sie sollten eigentlich ab sofort jeden Sonntag durch den Kiez ziehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Mehr Zugverkehr wagen
Holt endlich den Fernverkehr ins Deutschlandticket!
Vorteile von physischen Spielen
Für mehr Plastik unterm Weihnachtsbaum
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Jette Nietzard gibt sich kämpferisch
„Die Grüne Jugend wird auf die Barrikaden gehen“