: Apokalypse in Frankreich
In Zeiten des Generalstreiks: Das Festival Transmusicales in Rennes
Von Julian Weber
Die französischen Fluglotsen bummeln. Aus Solidarität mit den streikenden Lokführern von TGVs, Regionalzügen und den U-Bahn-Fahrern verzögern sie den Flugplan. Viele Linienflüge von Paris ins europäische Ausland starten dadurch erheblich verspätet oder fallen ganz aus. Mit solchen Aktionen wird gegen eine geplante Rentenform der Regierung Macron protestiert.
Beistand bekommt der Generalstreik von ganz unten: Zäher Bodennebel führt zur Annullierung zahlreicher französischer Inlandsflüge. Hunderte Passagiere sind daher am Donnerstagabend auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle gestrandet. Für den Reporter verlängert sich die Anreise zum Musikfestival Transmusicales im bretonischen Rennes um etliche Stunden. Spätnachts sitzt er mit anderen Leidtragenden in einem Bus, der mit zweistündiger Verspätung in die Bretagne fährt. Zunächst irrt der Busfahrer auf der Suche nach einer Tankstelle mitsamt den Passagieren noch durch die Peripherie der Hauptstadt. Die ähnelt einer verlassenen Goldgräberstadt in einem Spätwestern. Statt Saloon und Hufschmied reiht sich Fastfoodbude an Möbelhaus. Unter jeder Autobahnbrücke schlafen Menschen in Zelten.
Nach endloser Fahrt ist am frühen Morgen des Freitags das Fahrtziel Rennes erreicht. Viel zu sehen gibt es nicht, der Nebel hält sich zäh. Die sogenannte „Dumbledores Armee“ hält die Universität besetzt, an einem Kreisverkehr lodert ein einsames Protestfeuer. Bankfilialen, Boutiquen und die Fensterfronten schicker Kaufhäuser sind vorsorglich mit Brettern vernagelt. Apokalypse now.
Beschwerlicher Alltag
Hier steigt die Jubiläumsausgabe des Musikfestivals Transmusicales. „Rencontres Transmusicales“, wie es vollständig heißt. Begegnungen lassen sich in Rennes immer machen, nicht nur musikalischer Art. Das Festival findet ja nicht in einer Parallelwelt statt, jedes Jahr offenbart sich währenddessen auch der Aggregatzustand der französischen Gesellschaft. Dieses Jahr hat man den Eindruck, der Alltag ist für viele beschwerlich.
Trotzdem hat die Festivalleitung Anlass, optimistisch zu sein, die Zuschauerzahlen sind nicht rückläufig, die Eintrittspreise sind moderat. Bei einem Panel für die internationale Presse verliest Gründerin Béatrice Macé, die Transmusicales 1979 mit ihrem Lebensgefährten Jean-Louis Brossard gestartet hat, ein Communiqué. Damals, im Juni vor 40 Jahren, hat das Duo die Initiative ergriffen und engagierte zwölf Lokalbands, „um den Menschen den Boden für Begegnungen (französisch: Rencontres) zu bereiten“.
Für junge Leute ist Rennes damals tote Hose, Konzerte finden kaum statt. Diesen Zustand hat Transmusicales nachhaltig geändert. Schon Ende der Achtziger ist das Festival über die Landesgrenzen hinaus als Stomping Ground für Indiebands und randständige Künstler:innen bekannt. Bis heute ist Transmusicales drei Maximen verpflichtet: Das Unbekannte entdecken, Wahlfreiheit und Popmusik als Kunstform ernst nehmen. Transmusicales agiert wie ein Trüffelschwein und lässt die großen Stars von morgen eher am Anfang ihrer Karriere spielen. Dieses Jahr gastieren auf dem Festival 87 Künstler:innen aus 50 Ländern von allen Kontinenten. Eine Quote für Frauen gibt es zwar keine, Künstlerinnen sind aber prominent vertreten.
Eine davon ist Marie-Pierra Kakoma, die ihr Projekt Lous & the Yakuza nennt. Erst im September hat die Studentin der Philosophie und Politikwissenschaften ihre Debütsingle „Dilemme“ (bis jetzt mehr als 1,3 Millionen Klicks) veröffentlicht. Die junge Belgierin mit kongolesischen Wurzeln ist bis dato überhaupt noch nicht live aufgetreten. Genau wie den belgischen Kollegen Stromae, der seinen Siegeszug auch von Rennes aus angetreten hat, engagierte Transmusicales nun die 23-Jährige und ihre vierköpfige Band zu einer Residency: An fünf Tagen hintereinander entwickelt Lous mit ihrer Band vor Ort eine Liveshow. Den ratternden Trapbeat von „Dilemme“ übernimmt am Samstag auf der Bühne ein Drummer, der sachte auf sein Pad einklöppelt. Ein Keyboarder gibt die melancholische Grundstimmung der Pianotupfer des Songs geschmeidig wieder. Lous, gertenschlank und großgewachsen, wirkt dank weißem Kleid noch schlanker und noch größer, wenn sie über die Bühne stakst und sich von zwei Sängerinnen begleiten lässt, die ihre Stimme flankieren.
Der Saal im ausverkauften Theater „L’air libre“ jubelt nach zwei Songs, zwar nicht frenetisch, aber die Leute sind doch davon angetan, wie Lous mit ihren Begleiter:innen zum Gesang synchron tanzt. Als die Brüsselerin das Publikum zum Kanon auffordert, hat sie leichtes Spiel, bereitwillig stimmt ein Großteil des Publikums mit ein. In „Dilemme“ singt Lous davon, dass sie es bevorzugt, allein zu leben, weil ihr die Nähe zu Mitmenschen unangenehm ist. In Rennes kann sie auf die Solidarität der meisten zählen, das hilft über ihre noch etwas tapsige Bühnenshow hinweg.
Mangelnde Präsenz lässt sich Claude Fontaine nicht vorwerfen. Die kalifornische Künstlerin bewegt sich auf der Bühne des Theaters „Ubu“ anmutig, inszeniert sich als ätherisches Wesen: Wie ein Geist schleicht die junge Frau umher, bedankt sich überschwänglich beim Publikum fürs Kommen und wirkt ein bisschen wie Audrey Hepburn in der Rolle als Holly Golightly in „Breakfast at Tiffany’s“.
Fontaine haucht und singt leise, dringt damit dennoch durch, es ist mucksmäuschenstill im Saal. Fontaines Idee: Sie verwandelt sich Reggae- und Bossa-Nova-Songs an. Vor allem beim maskulin-geprägten und testosterongeladenen Rootsreggae gelingt ihr dieser Kulturtransfer prima. So radikal sanft hat Reggae noch nie geklungen. Zum Gelingen trägt auch ihre dreiköpfige, schlafwandlerisch versierte Backingband bei: Jeder Lick, jeder Break sitzt, dazu säuselt Claude Fontaine wie eine Bettfeder.
Insulare Musikindustrie
Aus gutem Grund ist ihr Konzert nachmittags angesetzt, abends in den riesigen Messehallen des Expo-Geländes, vor den Toren der Stadt, hätte ihr Sound wohl keine Chance. Bei Beginn der Abendkonzerte um 22 Uhr ist ein Teil der Zuschauer bereits aufgeheitert. Eher rockigere Bands sollen die Stimmung auffangen. Der US-Chicano-Band Gilberto Rodriguez y los Intocables gelingt das nicht. Ihr Latinsound mit spanischen Vocals, Percussion und Schmetter-Trompete kommt nicht vom Fleck. Bandleader und Sänger Rodriguez klingt heiser, die Songs schleppen sich im siechenden Midtempo dahin. Wäre die Band ein Elektroauto, es müsste dringend an die Ladestation angeschlossen werden.
Das Londoner Frauenquartett Los Bitchos inkorporiert seine lateinamerikanischen Sounds besser. Die fünf Künstlerinnen aus Schweden, Uruguay, England, USA und Neuseeland fusionieren Cumbia mit Garagenpunk und Frechheit und hauen mächtig auf die Kacke. Die wallenden Mähnen der Musikerinnen entfachen Wind, bei ihrem Konzert geht das Publikum sofort mit.
Vor und nach dem Auftritt strapaziert allerdings der französische YouTube-Star Marc Rebillet die Nerven aller Anwesenden. Zu von ihm am Laptop aufgelegten Songs rappt er eher bescheiden. Im Festivalprogramm wird er als „Joker aus Gotham“ angepriesen, hier auf der Bühne markiert er den seichten Pausenclown. Allgemein gilt die französische Musikindustrie als insular. Das liegt auch an einer Radioquote, die Airplay für nicht französischsprachige Künstler:innen erschwert. Ausländischen Künstlern hilft es aber, wenn sie eine französische Plattenfirma haben. Diese kann wiederum Steuern sparen, wenn sie junge Talente aus dem In- und Ausland fördert.
So ist etwa die russische Band Shortparis zu einem Plattenvertrag gekommen. Ihre Texte sind nur zu einem geringen Teil auf Französisch gesungen, der bombastische, technoide Synthrock ist auch so verständlich und gewinnt durch die Theatralik des Vortrags noch an Kontur. Sänger Nikolai Komyagin, der wie seine vier Mitmusiker aus Sankt Petersburg kommt, macht Freitagnacht eine akrobatische Bühnenshow, die an Rudolf Nurejew gemahnt. Schön zu sehen, wie Shortparis nicht dem gängigen Russland-Bild Putins entspricht.
Auf der Rückfahrt vom Messegelände in die Stadt kommt der Reporter mit Abigail ins Gespräch, die in Nantes studiert. Auch dort campieren Menschen im Freien, erzählt sie. Sie haben zwar feste Jobs, können sich ihre Wohnungen trotzdem nicht mehr leisten. Auf einer verbretterten Schaufensterfront in der Innenstadt von Rennes hat jemand „Marx, reviens!“ gesprüht. Der Nebel hat sich verzogen, aber der Generalstreik wird fortgesetzt.
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